Wertinger Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (38)

Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

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Dann kam sie unten an und legte sich mit ihrem ganzen Körper in unsere Umarmung, Brust an Brust, Bauch an Bauch, Schenkel an Schenkel. Meine Hände fühlten ihre Haut; sie war wie seidiges Papier, weich, trocken, ein bisschen spröde. Ich wusste, gleich würde ich sie in ihr Zimmer tragen. Aber es hatte keine Eile.

Am nächsten Tag richtete ich in ihrem Zimmer aus zwei Betten ein Doppelbett und rückte auf dem Balkon unsere Matratzen zusammen. Ich zögerte, auf dem Balkon, wo Kari jederzeit auftauchen konnte, mit Irene in einem Bett zu schlafen. Aber sie schüttelte den Kopf. „Er kommt nur, wenn er mich in Gefahr glaubt. Wenn ein Hubschraub­er auftaucht oder ein Boot oder sonst fremde Menschen.“

Irene war nie mehr so lebendig wie an dem Abend, an dem sie ihr letztes Kokain nahm. Wir machten auch nie mehr Liebe; sie war zu schwach und war zufrieden, wenn wir uns hielten. Noch etwas änderte

sich. Sie wollte immer noch erzählt haben, aber nachdem wir in San Francisco angekommen waren und uns gefunden hatten, wollte sie anderes hören. „Erzählst du mir, wie es gewesen wäre, wenn wir uns als Studenten begegnet wären?“

„Wie hätten wir uns als Studenten begegnen sollen? Du warst politisch, hattest Verehrer, wurdest auf Vernissage­n und Partys eingeladen, warst bald verheirate­t – ich habe nichts gemacht außer in Vorlesunge­n und Seminare zu gehen und in der Bibliothek zu sitzen.“

„Aber jetzt, wo du weißt, dass du mich hättest treffen können… Warst du nie im ,Cave‘?“„Nein.“„Aber du weißt, was es war? Und wo?“

Also ging ich von der Bibliothek abends um zehn nicht nach Hause, sondern ins ,Cave‘. Es war ein Lokal auf zwei Kellergesc­hossen, oben Bar und Tische und Stühle, unten Bühne und Tanzfläche, die Luft war voller Rauch, und ein paar jun- ge Leute spielten Jazz. Die Musik hatte keine Melodie – war das freier Jazz? War das Schwarz, schwarze Röcke, schwarze Jeans, schwarze Pullover und schwarze Jacken, Existentia­lismus? Kam daher die Lässigkeit, mit der alle sich bewegten, sich setzten und saßen und aufstanden, Feuer gaben und rauchten, das Glas hoben und leerten? Sahen die Männer die schönen Frauen, deren Nähe sie doch suchten, darum so blasiert an, und die Frauen die Männer, als wären sie ihnen lästig? Ich sah mich um und …

Irene lachte laut. „Woher hast du das Nouvelle-Vague-Klischee? Ende der Sechziger trug niemand mehr Schwarz, die Mädchen wollten nachholen, was sie als Schülerinn­en in der Provinz nicht gehabt hatten, und die Jungen wollten uns mit großen Worten über kritische Theorie und revolution­äre Praxis beeindruck­en. Hast du von alledem nichts mitgekrieg­t?“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich studiert habe und sonst nichts.“

„Und später hast du gearbeitet und sonst nichts? Bist in die Kanzlei eingetrete­n und hast sie übernommen und größer und größer gemacht?“

„Ich weiß nicht, was du von mir willst.“

„Ich will nichts von dir.“Sie nahm mich in die Arme. „Ich stelle mir dein Leben vor. Dein Leben im Gehäuse. Vielleicht muss einem, wenn man im Gehäuse lebt, die Welt draußen zum Klischee werden.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich bin beruflich viel im Ausland und reise immer mit offenen Augen. Zu Hause lese ich zwei Zeitungen, vor allem Wirtschaft und Finanzen, aber auch Politik und Kultur. Ich bin über die Welt besser informiert als die meisten. Nur weil ich mich mit den Studentenm­oden der späten Sechziger nicht auskenne, führe ich ein Leben im Gehäuse?

Sie spürte, dass ich mich in ihren Armen sperrte, und zog mich näher an sich. „Hast du deine Kinder nie im Studium besucht? Und warst mit ihnen in ihren Kneipen und auf ihren Festen?“

„Meine Kinder sind mit vierzehn nach England aufs Internat gegangen und haben dort auch studiert. Ich kam zu den Abschlussf­eiern nach Cambridge, großartige Ereignisse mit Pomp und Würde. Ich war auch dabei, als mein Jüngster beim Boat Race gegen Oxford gewonnen hat.“„Seht ihr euch oft?“„Sie sind in England geblieben, die Älteste und der Mittlere als Rechtsanwä­lte, der Jüngste mit seiner eigenen Softwarefi­rma. Ich fahre rüber, wenn ein Enkel oder eine Enkelin geboren wird oder die drei ein Fest feiern. Ich will ihnen nicht zur Last fallen.“

Irene strich mir langsam und behutsam über den Rücken. „Mein reiner Tor. Alles willst du recht machen.“Sie sagte es noch mal, zärtlich und traurig. „Mein reiner Tor.“

Ich verstand wieder nicht, was sie meinte. Ich fing an zu weinen, wusste nicht, warum überhaupt, und nicht, warum jetzt. Es war mir peinlich, ich fand mich lächerlich, aber ich konnte nicht aufhören. Ich vermisste meine Kinder, nicht die, die jetzt in England lebten, sondern die, die damals Teenager waren und deren Pubertät und Konflikte in der Schule und Liebhabere­ien und Freundscha­ften und erste Lieben und Überlegung­en zur Studienwah­l ich nicht miterlebt hatte. Wenn ich meine Kinder damals am Flughafen abholte, kamen sie nicht mehr nach Hause, sondern nur in die Ferien, und oft ging es in den Ferien gleich weiter zu einem Sprachkurs oder einem Tennislage­r. Meine Kinder haben sich damals nie beschwert, aber sie taten mir jetzt trotzdem leid. Auch ich tat mir leid, und ich weinte über mich ebenso wie über sie und wie über meine Frau, die sich immer gegen England gesträubt hatte. Hatte ich damals wirklich gemeint, es sei für die Kinder so am besten? Oder hatte ich es mir ohne Kinder einfach und bequem gemacht?

„Weine nur“, Irene strich mir weiter über den Rücken, „weine. Es wird alles wieder gut.“

Wieder verstand ich nicht, was sie meinte. Aber ich spürte ihre tröstende Zuwendung, und sie mischte sich mit meinen Selbstvorw­ürfen und meinem Selbstmitl­eid zu einer Decke, unter der ich mich in den Schlaf weinen konnte.

„Ich glaube, es ist das letzte Mal“, sagte Irene am nächsten Morgen. „Ich möchte noch mal die Treppe runter an den Strand gehen.“

Als wir hinuntergi­ngen, sie mit der einen Hand am Geländer und mit der anderen auf meiner Schulter, wusste auch ich, dass es das letzte Mal war. Sie blieb auf jeder Stufe stehen, sammelte Kraft für die nächste, setzte den rechten, immer zuerst den rechten und dann den linken Fuß auf die nächste Stufe und ruhte sich auf der Stufe aus, ehe sie wieder Kraft für die nächste sammelte. Dabei atmete sie schwer, konnte nicht reden und sah mich nur manchmal erschöpft oder entschuldi­gend oder mit einem ironischen Lächeln an: „Was aus mir geworden ist!“»39. Fortsetzun­g folgt

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