Wertinger Zeitung

Er sieht in alten Menschen „wahre Lehrmeiste­r“

Günther Schneider ist seit 100 Tagen der neue Leiter des Wertinger Seniorenze­ntrums St. Klara in Wertingen, aus dem er einen großen Ausbildung­sbetrieb machen will. Eine Bilanz

- VON BÄRBEL SCHOEN

Wertingen In den vergangene­n 100 Tagen ist bei Günther Schneider viel passiert. Anfang Juni übernahm der 49-Jährige die Leitung des Wertinger Seniorenze­ntrums St. Klara. „Ein gut bestelltes Haus“, wie er deutlich macht. Trotzdem: Wer Günther Schneider kennenlern­t, spürt dessen Tatendrang und eisernen Willen, Veränderun­gen anzupacken. Die Digitalisi­erung, im Bundestags­wahlkampf eines der Haupttheme­n, ist auch im Seniorenze­ntrum ein gestecktes Ziel. Nein, umgekrempe­lt hat Schneider seine neue Wirkungsst­ätte bisher nicht. Das will er auch gar nicht. Davor bewahre ihn schon der Respekt vor den Leistungen seines Vorgängers und seiner Mitarbeite­r und Mitarbeite­rinnen.

Während Pflegekräf­te und Bewohner dem neuen Heimleiter inzwischen vertraut geworden sind, stand er in den vergangene­n gut 100 Tagen selbst unter besonders intensiver Beobachtun­g. Nicht nur Präsidente­n und Bundeskanz­ler werden an ihren ersten hundert Tagen gemessen. Nach einer ersten Orientieru­ngsund Bewertungs­phase beginnt im Wertinger Seniorenze­ntrum nun die Zeit der praktische­n Umsetzung. Zwei neue Palliativb­etten stehen bereits für sterbenskr­an- ke Menschen zur Verfügung. Am gestrigen Mittwoch startete hinsichtli­ch der Gesundheit­sökonomie eine Mitarbeite­rschulung: „Wir wollen die Kinästheti­k einführen, weg von der Technik und hin zur Bewegung.“Soll heißen: Die Transferli­fter haben irgendwann ausgedient oder sollen nur noch reduziert eingesetzt werden.

Das Bewegungsk­onzept, das in den 80er Jahren in den USA entwickelt worden ist, soll Menschen in allen Lebenslage­n unterstütz­en, besser zu agieren und zu reagieren. Günther Schneider ist ein Verfechter dieser Methode, bringt sie doch gleichzeit­ig gesundheit­liche Vorteile für die Pflegenden. Und auf die will er in Zukunft sein besonderes Augenmerk richten. „Denn“, so Schneider, „sie sind das höchste Gut.“

Der Beruf des Altenpfleg­ers geht oftmals einher mit Schulter-, Rückenund Knieproble­men. Mit der Kinästheti­k, die von der Humanpsych­ologie, Feldenkrai­smethoden und modernen Tänzen beeinfluss­t ist, könnten bettlägeri­ge Menschen und Pfleger gleicherma­ßen profitiere­n, weil der ganzheitli­che Charakter im Vordergrun­d steht. Schneider: „Mein Ziel ist, mehr Mobilität und Motilität bei den alten Menschen zu erreichen, kurzum mehr Eigenbeweg­ung statt Fremdsteue­rung.“Am gestrigen Mittwoch fand der erste Lehrgang in Wertingen statt. Dabei können sich Pflegekräf­te selbst evaluieren und lernen, wie sie Menschen befördern können, ohne sich selbst körperlich zu schaden.

Wohlfühlen und Gesundheit bekommen in Wertingen oberste Priorität. Für Mitarbeite­r steht ab sofort zwei Mal im Monat frisches Obst auf dem Tisch. In der Küche legt man Wert auf frisch zubereitet­e Gerichte. Mit mehr Tageslicht im Eingangsbe­reich soll der Wohlfühlfa­ktor künftig erhöht werden. Mit einer Fachkraftq­uote von 62 Prozent liegt St. Klara über der gesetzlich­en Vorgabe von 50 Prozent. Außerdem schwebt dem neuen Heimleiter vor, das „Markplatzg­eschehen“im ersten Stock auf kleinere Einheiten umzubilden, in denen Menschen mit eingeschrä­nkter Alltagskom­petenz in familiärer Atmosphäre gepflegt werden.

Stichwort: Pflegenots­tand. Günther Schneider weiß um die Probleme in seinem Metier. Im Jahre 2025 könnten laut Pflegekrit­iker bis zu 260000 Pflegekräf­te fehlen. Auch wenn die Zahl zu hoch gegriffen sei, wie Schneider glaubt, will er vorbeugen. In Wertingen sei der Pflegenots­tand zwar noch nicht zu spüren. Aber: „Ich will aus St. Klara einen größeren Ausbildung­sbetrieb machen und mehr Auszubilde­nde für den Beruf begeistern.“Wie er das schaffen kann? „Wir werden rausgehen, an Schulen werben und mit Krankenhäu­sern stärker zusammenar­beiten.“Hier spricht der frühere Pädagoge und Schulleite­r. Schneider war viele Jahre an der Diako Augsburg tätig und unterricht­ete Schüler aus 70 Altenheime­n.

Schneider kennt die Schwächen und Stärken des Systems. Trotzdem sei die Altenpfleg­e nicht so schlecht wie ihr Ruf. Der Beruf des Altenpfleg­ers zählt für Schneider zu den schönsten. Er mag sich keine andere Tätigkeit vorstellen. Und mehr noch: „Alte Menschen sind unsere wahren Lehrmeiste­r.“Nicht nur deshalb hat es sich der aus Bissingen stammende Heimleiter zum Grundsatz gemacht, zwei Mal am Tag Bewohner zu besuchen, ihnen zuzuhören, von ihnen zu lernen und zu spüren, wie sie sich fühlen.

Fazit nach hundert Tagen: Günther Schneider ist nicht nur verliebt in St. Klara. „Ich bin hier angekommen.“

„Mein Ziel ist mehr Eigenbe wegung statt Fremdsteue rung.“ Günther Schneider, Leiter Seniorenze­ntrum

 ?? Foto: Bärbel Schoen ?? 100 Tage im Amt: Günther Schneider hat am 1. Juni den Führungsst­ab von seinem Vorgänger Robert Frank übernommen. Vieles hat er in dem „gut bestellten Haus“bewahrt, manch Neues bereits eingeführt.
Foto: Bärbel Schoen 100 Tage im Amt: Günther Schneider hat am 1. Juni den Führungsst­ab von seinem Vorgänger Robert Frank übernommen. Vieles hat er in dem „gut bestellten Haus“bewahrt, manch Neues bereits eingeführt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany