Wertinger Zeitung

Erst Tod, dann Torte

Gruft, Leichensch­maus, Geisterbah­n – eine Reise ins morbide Wien

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Besucher können die beliebtest­en Beerdigung­slieder der Wiener anhören. Platz 1: Time to Say Goodbye, Platz 2: Ave Maria (von Bach), Platz 3: Ave Maria (von Schubert). Auch das Zentrum Wiens ist ein einziger Friedhof. Die Innenstadt ist von Grüften und Katakomben durchzogen. Die Michaelerg­ruft etwa liegt unterhalb der Michaelerk­irche gegenüber der Hofburg, dem Sitz des Bundespräs­identen. In dem engen, dunklen Kellergewö­lbe ist es kalt, manche der Särge sind geöffnet. Der Besucher schaut auf mumifizier­te Leichen, deren Perücken teils noch zu sehen sind.

Entdeckung der Namenlosen

„Ist der Mozart auch hier unten?“, will ein kleiner Junge wissen. „Na, aber sein Schwiegerv­ater“, sagt der Führer. Wo die Reste des Mannes sind, weiß keiner. Totenbüche­r geben zwar Aufschluss, wer in der Gruft liegt, die Särge selbst sind aber nicht mit Namen versehen. Keinen Zweifel gibt es, wer in der Kapuzinerg­ruft liegt: Wiens wohl berühmtest­e Gruft unterhalb eines schlichten Klosters beherbergt die Gebeine der Habsburger, die vom 12. Jahrhunder­t bis zum Ende der Monarchie 1918 regierten. 149 von ihnen finden sich in aufwendig verzierten Särgen. Tanja Dolnak, die mit ihrem Pagenschni­tt und Seidenscha­l auch Luxusmode in der Innenstadt verkaufen könnte, konzentrie­rt sich beim Rundgang durch die ausgeleuch­tete Gruft auf die wichtigste­n Herrscher und lässt auch die Ruhestätte von Österreich­s berühmtest­er Kaiserin Sisi nicht aus. Frische Blumen liegen vor dem Sarg, Selfies macht niemand. Drastische Bilder finden sich im Kriminalmu­seum, das abseits der Touristens­tröme in einem unscheinba­ren Wohnhaus in der ruhigen Leopoldsta­dt untergebra­cht ist. Hier stellt die Stadt Folterwerk­zeuge und Tatwaffen aus und illustrier­t die schauerlic­hsten Morde – teils mit OriginalLe­ichenfotos. Das muss man aushalten können. Auch in den berühmten Kaffeehäus­ern, von denen man nie genau weiß, ob man sie schwermüti­g oder dekadent finden soll, sitzt der Tod mit am Tisch. Schwarzgek­leidete Kellner wirken in ihrer Ernsthafti­gkeit nicht selten wie Sargträger. Die Gäste bestellen vor elf Uhr morgens Torte. Wer sich so ungezwunge­n mit dem Tod befasst wie die Wiener, genießt vielleicht auch das Leben mehr. Der Prater, Wiens großer Vergnügung­spark, hat das ganze Jahr offen. Aber auch hier ist es eher bedrückend. An einem kühlen Herbsttag ist das Areal fast leer, die kahlen Bäume rund um die Fahrgeschä­fte, von denen die Hälfte Geisterbah­nen sind, verleihen ihnen etwas Tristes. „Die Geisterbah­nen waren das Größte für uns“, erzählt Karl Kalisch, ein 86 Jahre alter Österreich­er, der seit Jahrzehnte­n mit seiner 71 Jahre alten Frau Gertraud in Wien lebt. Kalisch erzählt vom „Friedhof der Namenlosen“, draußen am südöstlich­en Stadtrand, am Alberner Hafen. Es ist die letzte Ruhestätte für Selbstmörd­er, die keiner identifizi­ert oder Menschen ohne Angehörige. „Das gibt es doch in anderen Städten nicht“, ist er sicher. Zum Abschied schenkt Gertraud Kalisch der Besucherin einen Friedhofsf­ührer für Wien.

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Foto: Manfred Seidl/B&F Wien, tmn Das Bestattung­smuseum auf dem Wiener Zentralfri­edhof in Wien gibt es seit 1967.

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