Ihr Vertrauen in die Menschen war zerstört
Vor 15 Jahren wurde die zwölfjährige Vanessa in Gersthofen zuhause in ihrem Bett ermordet. Ihre Mutter spricht über die jahrelange Trauerarbeit. Und der Verein „Sicheres Leben“mahnt zum Hinschauen und Hinhören
Gersthofen Vor 15 Jahren wurde Vanessa aus Gersthofen ermordet. Der Täter hatte sich als Tod verkleidet und die schlafende Zwölfjährige in ihrem Kinderbett erstochen. Der wegen des Mordes verurteilte Michael W. sitzt noch hinter Gittern – er klagt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen seine Sicherungsverwahrung. An Vanessa und andere Kinder, die grausam zu Tode gekommen sind, wird am Sonntag an einer Gedenkstätte im Oberstdorfer Kurpark gedacht. Diese besondere Stunde hat der Verein „Sicheres Leben“initiiert, zu dem Romana Gilg gehört. Sie ist die Mutter von Vanessa. Zusammen mit Gabriele Schmidthals-Pluta versucht sie, Erfahrungen weiterzugeben, um anderen Kindern und Familien zu helfen.
Im Dezember 2002 fand eine große Trauerveranstaltung für Vanessa statt. Über 500 Menschen kamen an ihrem 13. Geburtstag in die Gersthofer Stadthalle. Was hat die Anteilnahme so vieler Menschen für Sie bedeutet? Romana Gilg: Schon bei der Beerdigung hat mir diese Solidarität sehr geholfen. Sie hat vor allem mein Menschenbild wieder zurecht gerückt. Denn mit der Ermordung hatte sich für mich die Frage gestellt: Ist das Leben unter Menschen, die ein Kind umbringen, überhaupt noch möglich? Mein Vertrauen in die Mitmenschen war absolut zerstört. Natürlich war es nur ein Täter. Aber das Gefühl sagt einem etwas anderes.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie das Vertrauen wieder gefasst hatten? Gilg: Es waren einige Jahre. Ich bin seit damals aber kritischer.
Das heißt? Gilg: Ich verlasse mich zum Beispiel nicht mehr so schnell auf andere. Wer weiß, wie es gewesen wäre, wenn der Täter aus meinen Bekanntenoder Freundeskreis gekommen wäre. Das mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich hatte damals auch lange gebraucht, um überhaupt zu verstehen, dass meine Tochter tot ist. Wenn mein Sohn von der Schule nach Hause kam, dachte ich mir immer: Wo bleibt eigentlich Vanessa?
Wie lange hat es gedauert, bis Sie den Tod Ihrer Tochter verarbeitet hatten? Gilg: Ich habe gelernt, damit zu le-
ben. Bis ich ihn überhaupt realisiert habe, hatte es Jahre gedauert.
Was hat Ihnen bei der Trauerarbeit geholfen? Wie hatten sie die schwierige Phase erlebt? Gilg: Sie sagen es: Man muss erleben. Mir tun heute alle Menschen leid, die keine Beileidsbekundungen am Grab wollen. Sie nehmen sich da-
durch das Erleben weg. Schmidthals Pluta: Man muss gar nichts sagen. Oft reicht es schon, jemanden in den Arm zu nehmen oder dem anderen zu zeigen: Ich nehme mir Zeit für Dich, Du bist nicht alleine. Bei der ermordeten Nora (wurde 2007 in Königsbrunn erwürgt, d. Red.) war es zum Beispiel der Familie auch ganz wichtig, ihr
Kind noch einmal sehen zu können. Gilg: Wir durften dreimal Vanessa sehen. Es ist wichtig, dass es diese Möglichkeit gibt, so noch einmal Abschied zu nehmen.
Sie geben Ihre sehr persönlichen Erfahrungen an andere Menschen weiter. Wie wollen sie noch helfen? Schmidthals Pluta: Indem wir dazu aufrufen, wieder mehr in die Familien zu schauen, damit es erst gar nicht zu Straftaten kommt. Tatsache ist, dass Buben mit hoher Gewalterfahrung später öfters eher selbst zu Tätern werden. Bei Mädchen aus sozialschwachen Familien besteht die Gefahr, dass sie zum Beispiel in die Prostitution absteigen. Nicht jeder wird automatisch zu einem Straftäter. Aber die Gefahr besteht. Gilg: Solche Täter wurden von ihren Eltern oft nicht nur körperlich, sondern auch psychisch vernachlässigt.
Der Mörder von Vanessa war ein Adoptivkind. Gilg: Ja. Ich mache deshalb auch ganz klar den Staat an der Tat mitverantwortlich. Schmidthals Pluta: Es müssten viel mehr Therapeuten eingesetzt werden. Das gilt auch für Kinder aus Kriegsgebieten, die zu uns gekommen sind. Sie sind Opfer. Es ist ganz schwer aus ihren Köpfen zu bringen, was sie erlebt haben. Da steht die Gesellschaft vor einer riesigen Aufgabe.
Sie hatten zum genaueren Hinschauen aufgerufen. Aber was dann? Schmidthals Pluta: Man muss nicht immer sofort zur Polizei oder zum Jugendamt gehen. Es gibt viele Opferschutzvereine, an die man sich wenden kann. Die Ansprechpartner dort geben weitere Tipps. Wichtig ist, die Kinder zu beobachten. Wie verhalten sie sich? Man kann auch mit den Nachbarn ganz unverfänglich ins Gespräch kommen.
Leider gibt es immer wieder Beispiele für die Kultur des Wegschauens. Schmidthals Pluta: Leider haben viele Eltern verlernt, auf ihre Kinder einzugehen. Das berichten die Nachtwanderer unseres Vereins immer wieder. Sie laufen an einem Tag der Woche durch Gersthofen und sprechen Kinder und Jugendliche an. Sie haben einfach nur ein Ohr für sie und ihre Probleme. Man glaubt nicht, wie hilfreich es sein kann, einem anderen einfach nur zuzuhören. Fakt ist: Der Zuwachs der sozial und auch emotional schwachen Familien wird weiter steigen. Und damit steigt auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die jemanden zum Zuhören brauchen. Das ist ein Wandel in unserer Gesellschaft.
Woran liegt es, dass nicht mehr genügend zugehört wird? Schmidthals Pluta: Viele Eltern sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Viele haben es auch verlernt, richtig zuzuhören. Wir sind manchmal zu lösungsorientiert. Gilg: Wir müssen keine Lösung anbieten, sondern nur ein Gesprächspartner sein. Heilsam ist, wenn sich jemand einfach nur etwas von der Seele reden kann.
Die Fragen stellte Maximilian Czysz