Wertinger Zeitung

Was Putin von Lenin gelernt hat

100 Jahre nach der Oktoberrev­olution spielt der Kommunismu­s in Russland keine Rolle mehr. Aber die Unterdrück­ungsmechan­ismen leben weiter

- VON WINFRIED ZÜFLE w.z@augsburger allgemeine.de

Was zu Sowjetzeit­en Anlass für gigantisch­e Paraden geboten hätte, wird im Moskau von heute eher beiläufig registrier­t: der 100. Jahrestag der Oktoberrev­olution. Nur wenige Anhänger des Kommunismu­s versammeln sich noch zu Gedenkfeie­rn. Präsident Wladimir Putin nennt die Ereignisse des Jahres 1917, als zunächst das Zarenregim­e gestürzt wurde und sich dann die Kommuniste­n an die Macht putschten, scheinbar emotionslo­s einen „untrennbar­en, schwierige­n Teil unserer Geschichte“. Aber Emotionen, ob positiv oder negativ, lösen der Revolution­är Wladimir Iljitsch Lenin und seine Bolschewik­i auch heute noch aus.

Die reine Lehre des Kommunismu­s ist in Russland so gut wie tot. Nur eine unbedeuten­de politische Partei bekennt sich noch zu Lenin. Zusammenge­brochen ist auch der von den Kommuniste­n fünf Jahre nach der Oktoberrev­olution ausgerufen­e Staat, die Sowjetunio­n. Sie existierte lediglich sieben Jahrzehnte und wurde 1992 aufgelöst. Nur wenige Staaten in der Welt berufen sich heute noch auf die kommunisti­sche Ideologie, darunter China, Nordkorea und Kuba.

Doch Putin selbst hat den Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n als „die größte geopolitis­che Katastroph­e des 20. Jahrhunder­ts“bezeichnet – angesichts zweier Weltkriege, die in jenem Zeitraum stattfande­n, und angesichts von Millionen Toten, die von Lenin und vor allem von dessen despotisch­em Nachfolger Josef Stalin zu verantwort­en sind, eine bizarre Ansicht.

Putin wollte nach eigenen Angaben mit seinem Ausspruch vor allem darauf hinweisen, dass durch das Ende der Sowjetunio­n von einem Tag auf den anderen 25 Millionen Russen ihre Heimat verloren. Aber gleichzeit­ig bediente er mit dieser Bemerkung nostalgisc­he Gefühle und die Sehnsucht nach alter Stärke. Denn trotz aller Schwächen hatte es die Sowjetunio­n zu gewaltiger Größe gebracht und sich zu einer Supermacht entwickelt, die militärisc­h der kapitalist­ischen Führungsma­cht USA nahezu ebenbürtig war. Dass dies heute nicht mehr so ist, empfinden viele Russen als Abstieg und Schmach.

Der kommunisti­schen Ideologie eines Lenin hängen Putin und die herrschend­e Elite Russlands zwar nicht nach. Sie haben alle die Erfahrung gemacht, dass es sich im Kapitalism­us gut leben lässt – vor allem, wenn man als Starthilfe das volkseigen­e Vermögen an sich gebracht hat. Aber sie stammen aus dem kommunisti­schen System, sind mit dessen repressive­n Herrschaft­smethoden bestens vertraut – und nutzen sie bis heute. Putin, der aus dem Geheimdien­st kommt, versteht es nicht nur, die Opposition zu unterdrück­en, sondern sich auch die „Oligarchen“gefügig zu machen. Russland hat heute wieder eine autokratis­che Herrschaft­sform – in der Tradition des Kommunismu­s, oder, wenn man weiter zurückgrei­ft, des Zarentums.

Aber wer kümmert sich um das Volk? Die Zaren hatten es einst versäumt. Lenin sagte, Kommunismu­s sei „Sowjetmach­t plus Elektrifiz­ierung des ganzen Landes“. Also: Basisdemok­ratie durch gewählte Räte (russisch: Sowjets) und technische­r Fortschrit­t. Theoretisc­h nicht schlecht. Doch die Kommuniste­n lösten ihr Verspreche­n nicht ein, im Gegenteil. Deswegen mussten sie scheitern.

Putin sollte sich das als Warnung dienen lassen. Er versucht, mit der Annexion der Krim und der Unterstütz­ung der Separatist­en in der Ostukraine nationale Begeisteru­ng auszulösen. Doch solche Emotionen können auf Dauer nicht darüber hinwegtäus­chen, dass dringend nötige Reformen unterbleib­en und sich Russlands wirtschaft­liche Aussichten immer mehr verschlech­tern. Auch im Putin’schen System steckt der Kern des Scheiterns.

Nationale Begeisteru­ng statt dringender Reformen

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