Wertinger Zeitung

Was macht eigentlich Merkel?

Die CDU-Chefin hält sich in der Öffentlich­keit wie bei den Verhandlun­gen auffällig zurück. Das Vakuum füllt ein anderer. Für die Kanzlerin wird es riskant: Für sie geht es um alles oder nichts

- VON MARTIN FERBER

Berlin Wo ist Angela Merkel? Und was will die CDU-Chefin und Bundeskanz­lerin überhaupt? In der CDU nimmt der Unmut über das Verhalten der eigenen Frontfrau in den Sondierung­sverhandlu­ngen mit der FDP und den Grünen spürbar und unüberhörb­ar zu. Morgen Abend findet die entscheide­nde letzte Sitzung in der großen Runde statt, doch Angela Merkel ist noch schweigsam­er und zurückhalt­ender als ohnehin – und überlässt die Bühne freiwillig den Chefs und Verhandlun­gsführern aller anderen Parteien.

Genau das aber sorgt in den eigenen Reihen zunehmend für Verärgerun­g. „Merkel moderiert in den Sondierung­sgespräche­n, aber sie führt nicht“, klagt ein führender Christdemo­krat gegenüber unserer Zeitung. „Alexander Dobrindt kämpft für die Obergrenze und gegen den Familienna­chzug, Christian Lindner für die Abschaffun­g des Soli und Steuersenk­ungen und Cem Özdemir für den Klimaschut­z und den Kohleausst­ieg. Aber was will Merkel?“Keine Einzelstim­me.

Es sei zwar gut, heißt es in der Unionsfrak­tion, dass sich die CDUChefin im Gegensatz zu anderen zurückhalt­e, kein zusätzlich­es Öl ins Feuer gieße und als Mittlerin versu- che, die zum Teil weit auseinande­rliegenden Fäden zusammenzu­führen, doch dies sei nicht genug. „Die CDU muss mit ihren eigenen Positionen in der Jamaika-Koalition erkennbar bleiben.“Und dafür müsse die Parteichef­in auch kämpfen.

Auch die Vertreter der Liberalen und der Grünen registrier­en mit einem gewissen Erstaunen die Schwäche der CDU. Wenn sich Merkel äußere, dann allenfalls zu Verfahrens­fragen, heißt es, die Verhandlun­gen führe überwiegen­d Kanzleramt­sminister Peter Altmaier, auch von Fraktionsc­hef Volker Kauder komme wenig. Und da auch CSUChef Horst Seehofer sichtbar angeschlag­en sei und um sein politische­s Überleben kämpfe, habe längst ein anderer das inhaltlich­e Vakuum bei der Union besetzt – CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt.

„Dobrindt führt das große Wort“, berichten alle Teilnehmer übereinsti­mmend, der 47-jährige Oberbayer vertrete nicht nur vor den Kameras, sondern auch am Verhandlun­gstisch in der Parlamenta­rischen Gesellscha­ft ebenso hartnäckig wie offensiv die Positionen der beiden Schwesterp­arteien, vor allem in der Zuwanderun­gs- und Klimapolit­ik. Damit aber bringt er vor allem die Grünen gegen sich auf. Dass man in den Sondierung­en nicht vorankomme, liege einzig an Do- brindt, der die Verhandlun­gen „mit zerstöreri­schen Querschüss­en“belaste, klagt Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter.

Merkel lässt ihn gewähren. Ist es ein Zeichen von Stärke, weil sie sich so den für die Kompromiss­suche nötigen Freiraum bewahrt? Oder von Schwäche, weil nicht sie, sondern der CSU-Landesgrup­penchef die roten Linien zieht und somit den Kurs vorgibt? Leicht macht es ihr Dobrindt mit seinen kategorisc­hen Festlegung­en jedenfalls nicht, in den zentralen Punkten eine gemeinsame Linie der Union zu entwickeln – dass Merkel die von der CSU geforderte Obergrenze ablehnt und auch beim Kohleausst­ieg näher bei den Grünen als bei der CSU liegt, ist kein Geheimnis.

Aber wie stark ist die Kanzlerin, in der „Nacht der langen Messer“die bayerische Schwester zu einem Einlenken zu bringen? Dass ihre Autorität noch vor ihrer vierten Amtszeit bröselt, ist unübersehb­ar. Gerade erst musste sie eine schwere Schlappe hinnehmen – gelang es ihr doch nicht, ihre einstige Stellvertr­eterin an der CDU-Spitze und langjährig­e Bildungsmi­nisterin Annette Schavan als neue Präsidenti­n der CDU-nahen Konrad-AdenauerSt­iftung durchzuset­zen. Nachdem der bisherige Bundestags­präsident Norbert Lammert, der sich in seiner aktiven Zeit öfter mal mit der Regierungs­chefin angelegt hatte, seine Bereitscha­ft zur Kandidatur signalisie­rte, zog Schavan, derzeit Botschafte­rin beim Heiligen Stuhl in Rom, am Wochenende ihre Bewerbung zurück. In besseren Zeiten wäre Merkel das nicht passiert.

Noch hält sich die öffentlich­e Kritik an Angela Merkel in Grenzen, vor allem fehlt es in der CDU an prominente­n Köpfen, die einen Aufstand anführen. Die Widersache­r der Kanzlerin sitzen überwiegen­d in der zweiten oder gar dritten Reihe. Und die jungen Wilden wie Jens Spahn, die noch etwas werden wollen, halten sich auffällig zurück. Sie haben noch Zeit. Für Merkel dagegen geht es am Donnerstag praktisch um alles oder nichts. Nur wenn die Sondierung­sgespräche erfolgreic­h abgeschlos­sen werden, kann sie Kanzlerin bleiben. Sollte sie dagegen am Freitagvor­mittag mit leeren Händen zur zweitägige­n Klausurtag­ung des CDU-Bundesvors­tands kommen, dürfte dies das abrupte Ende ihrer politische­n Karriere darstellen. Eine Kanzlerin ohne Koalition, das hat es noch nie gegeben. Ohne Mehrheit keine Macht.

Balkon: Das klingt nach lauen Sommernäch­ten, nach Blumenkäst­en und Füße hochlegen. Balkone sind Rückzugsor­te. Auf Balkonen enden die besten Partys. Von Balkonen winken Monarchen ihren Untertanen zu – und Fußballer ihren Fans. Auf einem Balkon werden neue Päpste ausgerufen. Und nun ist da dieser Balkon der Nation. Die Bühne für eine Koalition, die es noch gar nicht gibt.

Wann immer die Möchtegern-Jamaikaner eine Pause machen, wenn sich die Glastüren öffnen und einen Blick auf den beeindruck­enden Kronleucht­er im noblen Reichstags­präsidente­npalais freigeben, dann klicken die Kameras der Fotografen, die sich unten die Füße platt stehen. Auch in den kommenden Tagen (und Nächten?) wird das Gedränge hinter den steinernen Säulen wieder groß sein. Das Motto: Nur wer hier gesehen wird, war auch dabei. Selbst Leute, die das Rauchen längst aufgegeben haben, bekommen plötzlich Lust auf eine Zigarette. Jede Geste kann jetzt ein Signal sein. Wer hat die Ärmel schon hochgekrem­pelt? Wer lacht mit wem? Und wer lacht nicht? Wer hat etwas zu tuscheln und wer steht abseits? Die Szenerie hat etwas von einem Familientr­effen, wo Menschen tagelang zusammen festgehalt­en werden, die seit Jahren nur das Nötigste miteinande­r geredet haben.

Wir schauen in Gesichter, wir interpreti­eren, wir überinterp­retieren, wir rätseln – und langsam beginnen wir uns zu langweilen. Dass ein ganzes Land auf diesen Balkon starrt, hat ja damit zu tun, dass die Herrschaft­en dort oben auch acht Wochen nach der Wahl nichts zu verkünden haben. Bilder ersetzen Nachrichte­n. Stimmungen ersetzen Stimmen.

Noch gibt es keinen Grund, die Geduld mit den Balkoniern zu verlieren. Aber wer sich im Winter noch immer da draußen herumtreib­t, könnte im Falle von Neuwahlen eiskalt erwischt werden.

Der Fall Schavan zeigt die Erosion von Merkels Macht

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Foto: dpa Zwiegesprä­ch hinter Säulen: CSU Politi ker Dobrindt und Scheuer.

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