Gestolpert oder geschlagen?
Nicht immer sind Verletzungen von Kindern eindeutig. Welche Hinweise auf Gewalt es gibt und wie die Münchner Kinderschutzambulanz Misshandlungen aufdeckt
München/Augsburg Blutige Knie, blaue Flecken am Arm oder eine dicke Beule am Kopf: Oft lässt sich nicht sagen, ob solche Verletzungen vom Toben im Garten kommen oder darauf hinweisen, dass ein Kind misshandelt wurde. Für solche Verdachtsfälle gibt es die Münchner Kinderschutzambulanz. Ärzte, Kindergärten oder Jugendämter in ganz Bayern können sich seit 2011 an die Einrichtung am Rechtsmedizinischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität wenden – und das rund um die Uhr. Etwa 2000 Anfragen wurden dort bisher bearbeitet, wie Ambulanz-Chefin Elisabeth Mützel gestern bilanzierte. Das Ziel: Misshandlungen erkennen und stoppen.
Die Ambulanz, die auch in den nächsten vier Jahren mit 1,7 Millionen Euro vom bayerischen Familienministerium gefördert wird, wirkt freundlich und hell. Stofftiere und Spielsachen zwischen Untersuchungsliege und einem gynäkologischen Untersuchungsstuhl sollen die Kinder beruhigen. Viele Verletzun- gen werden anhand von Fotos beurteilt, immer wieder werden die jungen Patienten aber auch direkt vor Ort untersucht. „Wir haben pro Jahr über 60 Fälle an körperlichen Untersuchungen“, erklärt Mützel. Die Dokumentation der Verletzungen erfolge standardisiert – in Wort und Bild. „Quasi gerichtsverwertbar, weil wir nicht wissen, wie es hinterher weitergeht.“
Pro Tag kümmern sich die Mediziner vom Ambulanzteam durchschnittlich um einen Fall. Sie beurteilen zum Beispiel, ob Kleinkinder heftig geohrfeigt wurden oder ob sie nur gestolpert und gegen die Badewanne gestoßen sind – oder wie Verletzungen im Intimbereich zustande gekommen sind. „Wir sind nicht da, um irgendjemanden in die Pfanne zu hauen. Sondern wir wollen objektiv und neutral beurteilen, weil nur das dem Kind weiterhilft“, sagt Mützel. Im Fall eines vierjährigen Jungen mit Blutergüssen an den Schienbeinen und am Kopf seien zum Beispiel die Eltern unter Verdacht geraten, den kleinen Buben misshandelt zu haben. Die Ambulanz habe in Kooperation mit der Kinderklinik in München schließlich aufgedeckt, dass die Sache ganz anders war: Das Kind litt unter einer schweren Kollagenerkrankung. Immer wieder gebe es aber auch Fälle, in denen man zu keinem deutlichen Ergebnis komme, sagt Mützel: „Wenn wir es anhand der Verletzungen nicht eindeutig klären können, dann sagen wir das auch.“
Auch Harald Lochbihler von der Kinderschutzgruppe am Augsburger Klinikum hat beruflich mit misshandelten Kindern zu tun. Ärzte, Krankenhäuser, Jugend- oder Gesundheitsämter, aber auch Privatpersonen können sich an die Einrichtung wenden. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche, bei denen der Verdacht besteht, dass sie misshandelt oder vernachlässigt wurden – körperlich, aber auch seelisch. Das Besondere sei in Augsburg die interdisziplinäre Kooperation – etwa zwischen Neurochirurgie, Kindergynäkologie und Psychologie.
Lochbihler kennt die Hinweise, die auch einem Laien verraten können, dass ein Kind möglicherweise misshandelt wurde. Am einfachsten sei ein Hämatom auf der Wange, wo noch der Abdruck einer Hand sichtbar sei, sagt der Mediziner. Kinder, die häufig geschlagen oder anders verletzt werden, hätten zudem oft einen starren Blick. „Weil sie schon wieder die nächste Misshandlung befürchten“, sagt Lochbihler. Hinzu kämen noch verschiedene Zeichen der Vernachlässigung, etwa Krätze oder ein allgemein schlechter hygienischer Zustand.
Die Verletzungen werden dokumentiert – gibt es Zweifel, ob tatsächlich Gewalt dahintersteckt, wird die Kinderschutzambulanz in München zurate gezogen.
Die Kinder werden in Augsburg nicht nur untersucht und behandelt, sondern auch befragt. Das solle man aber möglichst den Kinderpsychologen überlassen, meint Lochbihler. „Man macht das nicht zu oft und mit der nötigen Vorsicht.“
Oft werden Misshandlungen aufgedeckt, weil sich eine Kindergärtnerin an das Jugendamt wendet. Wem Anhaltspunkte, die auf Gewalt gegen ein Kind hinweisen, auffallen, kann sich beim Jugendamt oder auch bei der Kinderschutzgruppe melden. (mit dpa) »Kommentar
Es ist trauriger Alltag. Immer wieder hören wir von Kindern, die schwer misshandelt oder missbraucht werden. Es ist erst ein paar Tage her, dass vor dem Memminger Landgericht ein besonders schockierender Fall verhandelt wurde: Ein Mann soll seine Stieftochter über eineinhalb Jahrzehnte missbraucht haben. Insgesamt 778 Mal. Es begann, als das Mädchen sieben war.
Dass so etwas ein Kind schwer traumatisiert, sein Leben zerstört und es psychisch für immer beeinträchtigt, steht außer Frage. Deswegen muss jedem Verdacht, sei er noch so klein, nachgegangen werden. Man muss sich trauen, sich einzumischen – selbst, wenn man das Gefühl hat, dass die ganze Sache einen eigentlich nichts angeht. Das gilt für Familienangehörige genauso wie für Nachbarn oder Freunde. Schweigen und wegschauen ist der falsche Weg. Denn Kinder können sich nicht alleine helfen. Sie sind auf Schutz angewiesen.
Einrichtungen wie etwa die Kinderschutzambulanz in München bieten hierbei Hilfe – auch in Fällen, in denen nicht klar ist, ob es sich nur um eine Spielplatzverletzung oder die Folgen von körperlicher Gewalt handelt. Aufzuklären, was wirklich passiert ist, hat oberste Priorität. Denn nur so können die Täter zur Rechenschaft gezogen und die Kinder geschützt werden.