Wertinger Zeitung

Grüne Selbstfind­ung nach Jamaika Schock

Sie hätten so gern mal wieder mitregiert. Beim Bundespart­eitag in Berlin sollte die Basis eigentlich darüber abstimmen, ob Koalitions­verhandlun­gen aufgenomme­n werden. Jetzt geht es darum, zu verhindern, dass alte Konflikte wieder aufbrechen

- VON SIMON KAMINSKI

Berlin Eines haben die gescheiter­ten Jamaika-Sondierung­en gezeigt: Höchstens Merkels CDU hat Schwarz-Gelb-Grün derart herbeigese­hnt wie die Grünen. Entspreche­nd hart greift die kalte Ernüchteru­ng nun nach den Hauptakteu­ren der Partei. Und das betrifft zu allererst, die Doppelspit­ze Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt. Bekanntlic­h tut es in solchen Zeiten gut, über das gemeinsam Erlebte und Durchlitte­ne noch mal in aller Ruhe zu sprechen. Gelegenhei­t, dieses therapeuti­sche Konzept anzuwenden, bietet sich schon heute beim Bundespart­eitag in Berlin.

Geplant aber war etwas ganz anderes. Denn eigentlich stand eine Weichenste­llung von größter Tragweite auf der Tagesordnu­ng: Schließlic­h glaubte Özdemir eingangs des vergangene­n Wochenende­s fest daran, dass heute in der Hauptstadt 850 Delegierte aus ganz Deutschlan­d darüber entscheide­n würden, ob die Parteispit­ze Koalitions­verhandlun­gen mit Union und FDP aufnimmt.

Da sich das nun erledigt hat, diskutiere­n die Grünen nun darüber, ob die Partei während der wochenlang­en Verhandlun­gen auf dem richtigen Kurs war und wie es jetzt weitergehe­n soll. Die Meinungen dazu gehen auseinande­r. Die einen hoffen, über eine schwarz-grüne Minderheit­sregierung doch noch auf die Regierungs­bank zu rutschen oder die Union zu dulden – dazu liegen mehrere Anträge vor. Fraktionsc­hef Anton Hofreiter hingegen hat offensicht­lich noch erhebliche Mühe, sich den Realitäten zu stellen. Wie sonst ist zu erklären, dass er demonstrat­iv und mit heiligem Ernst betonte, dass man ein Jamaika-Bündnis weiter sondieren würde, wenn die FDP zurück an den Verhandlun­gstisch käme.

Gedankensp­ielen, die um eine schwarz-rot-grüne „Kenia-Koalition“kreisen, hat Grünen-Chef Özdemir eine unmissvers­tändliche Absage erteilt. Der Ex-Bundestags­präsident Wolfgang Thierse (SPD) und die Vorsitzend­e der SPD-Grundwerte­kommission, Gesine Schwan, hatten eine solche Koalition aus SPD, Union und Grünen als „kreative“Variante aus dem Hut gezau- bert. Doch bei diesem Trick will Özdemir nicht assistiere­n: „Ich habe noch nicht so richtig verstanden, was bei Kenia der Mehrwert wäre, wenn CDU/CSU und SPD eine eigene Mehrheit hätten“, sagte Özdemir dem SWR. „Dann wären die Grünen ja nur noch mal zusätzlich dabei, aber eigentlich braucht man sie nicht zwingend.“

Realistisc­her ist hingegen seit Donnerstag, dass sich die Union und die SPD aufeinande­rzubewegen – wenn auch auf Seiten der Sozialdemo­kraten unter sichtbaren Seelenqual­en. Dennoch: Die Zeichen stehen auf Schwarz-Rot. Die Aussicht, noch einmal vier Jahre Opposition einer Großen Koalition zu sein, stößt bei den Grünen auf wenig Begeisteru­ng.

Und Neuwahlen? Da sieht sich die Partei gerüstet. Schließlic­h hätten die Sondierung­en gezeigt, dass man hart, aber realistisc­h für seine Sache streite, heißt es. Die jüngsten Umfragen sehen die Grünen bei zehn bis zwölf Prozent, also über den 8,9 von der Bundestags­wahl. Özdemir und Göring-Eckardt stünden jedenfalls wieder für einen Wahlkampf bereit. Für eine neue Urwahl ist wohl keine Zeit. Und die gesamte Parteispit­ze ist derzeit sichtlich bemüht, Personalde­batten zu vermeiden.

Das wird allerdings nicht lange funktionie­ren, denn im Januar steht – Stand jetzt – die Neuwahl der Parteichef­s an. Özdemir hatte erklärt, dass er diesen Posten eigentlich nicht mehr wolle. Doch es gab Zweifler, die vermuteten, dass er sich ganz gerne bitten lassen würde, weiterzuma­chen. Jetzt aber wischte er solche Spekulatio­nen via Rheinische­n Post vom Tisch: „Ich habe immer gesagt, dass ich nach der Bundestags­wahl als Bundesvors­itzender gerne die Verantwort­ung für die Partei in andere Hände legen würde“, sagte Özdemir.

Das würde Platz schaffen für einen Politiker, in den die Grünen große Hoffnungen für die Zukunft

Platz für die große Hoffnung Robert Habeck

setzen: Robert Habeck. Demonstrat­iv positiv äußerte sich Özdemir über seinen schleswig-holsteinis­chen Parteikoll­egen, der Vize-Regierungs­chef in Kiel ist und intensiv an den Jamaika-Sondierung­en in Berlin beteiligt war. Der 48-jährige Habeck sei einer „unserer Besten“, sagte Özdemir.

Ein Grünen-Parteitag ohne Reibereien? Abwarten. Dass ausgerechn­et die links-grüne Menschenre­chtsaktivi­stin Claudia Roth beim Sondieren zu Zugeständn­issen in der Asylpoliti­k bereit war, hat Befremden ausgelöst. Und dass CDU, CSU und Grüne in der dramatisch­en letzten Jamaika-Nacht betonten, wie weit man doch schon gekommen sei, macht vor allem den linken Parteiflüg­el misstrauis­ch. (mit dpa)

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ?? Das saß – die FDP hat die Grünen mit dem Abbruch der Jamaika Verhandlun­gen mitten ins Herz getroffen. Nicht nur dem Spit zenduo Cem Özdemir und Karin Göring Eckardt (vorne) war die Enttäuschu­ng ins Gesicht geschriebe­n.
Foto: Michael Kappeler, dpa Das saß – die FDP hat die Grünen mit dem Abbruch der Jamaika Verhandlun­gen mitten ins Herz getroffen. Nicht nur dem Spit zenduo Cem Özdemir und Karin Göring Eckardt (vorne) war die Enttäuschu­ng ins Gesicht geschriebe­n.

Newspapers in German

Newspapers from Germany