Wertinger Zeitung

Frauen in Indien schweigen nicht mehr

Nach Hollywood erreicht der Skandal um sexuelle Belästigun­g jetzt Bollywood. In der indischen Filmszene werden Opfer statt Täter bestraft. Und nicht nur dort

- VON AGNES TANDLER

Neu Delhi Die ganzen Erinnerung­en waren plötzlich wieder da, als die indische Schauspiel­erin und Politikeri­n Vani Tripathi Tikoo die Botschafte­n im Internet sah. Sie alle enthielten das Schlagwort #MeToo – ich auch –, unter dem in den vergangene­n Monaten zehntausen­de Frauen auf der ganzen Welt über ihre Erfahrunge­n mit sexueller Belästigun­g berichtet hatten. Die 38-jährige Vani Tripathi Tikoo erinnerte sich daran, wie 2013 vier betrunkene Männer nach einem Verkehrsun­fall in der indischen Hauptstadt versucht hatten, sie in ihrem Auto zu vergewalti­gen.

Wohl in keinem anderen Land der Welt gibt es mehr Frauen, die nach den öffentlich­en Vorwürfen sexueller Vergehen gegen US-Prominente wie Harvey Weinstein Grund haben, sich in sozialen Medien zu Wort zu melden und „ich auch“zu sagen. Das liegt nicht nur an der Bevölkerun­gsgröße von 1,3 sondern insbesonde­re an dem großen Problem sexueller Gewalt gegen Frauen in Indien. Auch innerhalb der Filmszene von Bollywood kommt nach dem Skandal im „großen Bruder“Hollywood ans Licht, was schiefläuf­t.

Doch der Umgang damit ist oft ein ganz anderer als in der westlichen Welt: Statt die Opfer zu verteidige­n, werden die Täter geschützt. Ende September etwa sprach ein Gericht in Neu-Delhi den Regisseur Mahmood Farooqui frei, der wegen Vergewalti­gung angeklagt war: Das Opfer habe nicht klar genug gemacht, dass es keinen Sex wolle, hieß es. „Ein schwaches Nein von Seiten der Frau kann während einer sexuellen Handlung als ein Ja gedeutet werden“, schrieb Richter Ashutosh Kumar in der Urteilsbeg­ründung. Die Frau des angeklagte­n Filmemache­rs sprang ihrem Ehemann bei und erklärte, die Beschuldig­ungen seien nichts als haltlose Lügen.

„Die vielen #MeToo-Posts zeigen, wie weitverbre­itet sexuelle Be- lästigung und Nötigung ist“, erklärt Namita Bhandare, die für die Tageszeitu­ng Hindustan Times schreibt. Viele Männer seien erstaunt, dass sich so viele Frauen in Indien jetzt zu Wort gemeldet hätten. Doch Kritiker der Social-Media-Kampagne finden, dass Aufregung in der Öffentlich­keit allein nicht ausreicht. Die Einstellun­g der konservati­ven, indischen Gesellscha­ft müsse sich ändern, in der die Opfer sexueller Gewalt stigmatisi­ert würden.

Die #MeToo-Kampagne erreicht Indien fünf Jahre nach der Massenverg­ewaltigung und dem Mord an einer Studentin in einem Bus im Dezember 2012. Der Tod der Studentin hatte wochenlang­e Proteste im ganzen Land ausgelöst und eine Debatte über die Sicherheit von Frauen in Indien entfacht. Seither hat die Regierung die Gesetze bei VergeMilli­arden, waltigung drastisch verschärft, die Tat kann nun mit dem Tode bestraft werden. Doch die Kette der brutalen Fälle reißt nicht ab. Die #MeToo-Kampagne zeigt, wie weitverbre­itet sexuelle Gewalt gegen Frauen weiterhin ist und wie oft diese als Kavaliersd­elikt abgetan wird.

Immer noch ist es für die Opfer traumatisi­erend, an die Öffentlich­keit zu gehen. Eine indische Schauspiel­erin, die kürzlich einen Kollegen bezichtigt­e, sie auf einer Party begrapscht und anzügliche Bemerkunge­n gemacht zu haben, musste sich als Schlampe bezeichnen lassen, weil der Schauspiel­er-Kollege verheirate­t war. Als im September ein Foto der Schauspiel­erin Karishma Sharma auftauchte, das die 23-Jährige in einem engen schwarzen Kleid mit Zigarette in der Hand zeigt, wurde sie im Netz als schamlos und als Pornostar beschimpft.

Die Kultur, in der die Ehre einer Frau eng mit antiquiert­en Moralvorst­ellungen verknüpft ist, ändert sich nur sehr langsam. (mit dpa)

Schauspiel­erin mit engem Kleid wird Pornostar genannt

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