Goethes „Urfaust“: Was für eine Show!
Enttäuschung und Überraschung im Dillinger Stadtsaal
Dillingen Die ersten Besucher gingen, als der Bühnenfaust den Sinn des Lebens im Drogenrausch suchte. Die meisten Theaterfreunde hielten durch. Sie wurden insofern belohnt, weil der Regie im zweiten Teil die Ideen ausgingen. Deshalb ließen die abschließenden Gretchenszenen wenigstens ahnen, was mit dem „Urfaust“von Goethe eigentlich hätte gezeigt werden können.
Präsentiert wurde jedoch ein weiteres Beispiel für die unbeschränkte Freiheit des modischen Regietheaters. Das gastierende Badische Landestheater Bruchsal präsentierte Goethes frühe Bearbeitung der Faust-Legende als unterhaltsam rhythmisierte Story, die ihre Figuren aus einer Altkleidersammlung auferstehen lässt.
Dem Zuschauer wurde eingeschärft, dass das flotte Spiel auf einem „textilen Trümmerfeld“, also auf altem Plunder basiert. Goethes Prosa-Passagen und Knittelverse dienten als Textbausteine bei der Montage einer Faustgeschichte, die sich mit englischen Interjektionen, wirkungsvollen Lichteffekten und mit Rapper-Rhythmik am Amüsierbetrieb der Gegenwart orientierte.
Das führte tatsächlich zu Konsequenzen, die man als amüsant empfinden konnte, wenn man das Stück nicht kannte. Als eine Art Ouvertüre dienten Zitate aus Goethes „Prometheus“-Gedicht und aus dem Lied „Die schöne Nacht“.
Dabei wurde nicht bedacht, dass die revolutionäre Hybris und die anakreontische Lieblichkeit dieser frühen Texte als Füllmaterial für eine „Urfaust“-Inszenierung völlig ungeeignet sind, weil sie weder die Erkenntnistragödie noch das Liebesdrama flankierend kommentieren.
Die Valentinszene modernisierte Regisseur Joerg Bitterich mit zeit- gemäßem „Halt’s-Maul!“-Geschrei. Als Faust verrät, dass er endlich erkennen wolle, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, starrt er merkwürdigerweise nicht ins kosmische All, sondern in den aufgerissenen Mund eines Mitspielers.
Die viel umherhopsende Mephistophela ist am Schluss in ein Brautkleid gehüllt. Sie führt Margarethe fort, niemand weiß wohin.
Sehr gut ließ sich an dieser Aufführung beobachten, wie überholt und antiquiert das Regietheater längst ist. Als Maria Becker 1977 im Münchener Residenztheater dem Mephisto erstmals weibliche Züge verlieh, war das sensationell. Heute ist das zumindest einfallslos. Als Peter Stein 1969 das GoetheDrama „Torquato Tasso“im PopArt-Stil inszenierte, löste er landesweites Staunen aus. Heute sind solche Einfälle wegen ständiger Wie- derholungen nur Anlässe zum Gähnen.
Das gilt auch für die Aufsplitterung der Gestalten. Im Gastspiel des Bruchsaler Theaters zerfallen Faust und Margarethe immer wieder in verschiedene Figuren. Trotzdem will der eigentliche Faust (Frederik Kienle) kein Profil gewinnen. Er repräsentiert weder den Spitzengelehrten noch den lebenshungrigen Liebhaber.
Er konturiert nicht seine Rolle, beherrscht aber eindrucksvoll die „Rolle vorwärts“auf den Altkleidermatten. Insgesamt wirkt er wie ein gutbürgerlicher Herr auf Abwegen. Mephistopheles (Lisa Bräuniger) ist ein agiler Bursche ohne jede Magie und Mystik. Dieser Teufel hat mehr Vergnügen an der irdischen Groteske als am Höllenfeuer.
Dankbar war der irritierte Teil der Zuschauer dem Gretchen (Julia Kemp). Sie durfte als einziges Ensemblemitglied Goethes Texte zwar im Singsang, aber sinngetreu vortragen. Dieser Schauspielerin gelang es auch, eine Ahnung vom bühnenwirksamen Zauber literarischer Tragik zu vermitteln.
Es bleibt nur zu hoffen, dass kein Besucher diese „Faust“-Aufführung für den Rest seines Lebens als Inszenierung eines Goethe-Werks in Erinnerung behält. Eine bestimmte Art von Vergnügen war aber gewährleistet: Man konnte zusehen, wie sich ein Regisseur, frei von jeder Fessel des Copyrights, die Zeit vertreibt, indem er mit sechs Figuren spielt und spielt und spielt.
Goethes Verse treffen auf wirkungsvolle Lichteffekte und Rapper Rhythmik Faust wirkt im Stück wie ein gutbürgerlicher Herr auf Abwegen