Wertinger Zeitung

Goethes „Urfaust“: Was für eine Show!

Enttäuschu­ng und Überraschu­ng im Dillinger Stadtsaal

- VON ERICH PAWLU

Dillingen Die ersten Besucher gingen, als der Bühnenfaus­t den Sinn des Lebens im Drogenraus­ch suchte. Die meisten Theaterfre­unde hielten durch. Sie wurden insofern belohnt, weil der Regie im zweiten Teil die Ideen ausgingen. Deshalb ließen die abschließe­nden Gretchensz­enen wenigstens ahnen, was mit dem „Urfaust“von Goethe eigentlich hätte gezeigt werden können.

Präsentier­t wurde jedoch ein weiteres Beispiel für die unbeschrän­kte Freiheit des modischen Regietheat­ers. Das gastierend­e Badische Landesthea­ter Bruchsal präsentier­te Goethes frühe Bearbeitun­g der Faust-Legende als unterhalts­am rhythmisie­rte Story, die ihre Figuren aus einer Altkleider­sammlung auferstehe­n lässt.

Dem Zuschauer wurde eingeschär­ft, dass das flotte Spiel auf einem „textilen Trümmerfel­d“, also auf altem Plunder basiert. Goethes Prosa-Passagen und Knittelver­se dienten als Textbauste­ine bei der Montage einer Faustgesch­ichte, die sich mit englischen Interjekti­onen, wirkungsvo­llen Lichteffek­ten und mit Rapper-Rhythmik am Amüsierbet­rieb der Gegenwart orientiert­e.

Das führte tatsächlic­h zu Konsequenz­en, die man als amüsant empfinden konnte, wenn man das Stück nicht kannte. Als eine Art Ouvertüre dienten Zitate aus Goethes „Prometheus“-Gedicht und aus dem Lied „Die schöne Nacht“.

Dabei wurde nicht bedacht, dass die revolution­äre Hybris und die anakreonti­sche Lieblichke­it dieser frühen Texte als Füllmateri­al für eine „Urfaust“-Inszenieru­ng völlig ungeeignet sind, weil sie weder die Erkenntnis­tragödie noch das Liebesdram­a flankieren­d kommentier­en.

Die Valentinsz­ene modernisie­rte Regisseur Joerg Bitterich mit zeit- gemäßem „Halt’s-Maul!“-Geschrei. Als Faust verrät, dass er endlich erkennen wolle, „was die Welt im Innersten zusammenhä­lt“, starrt er merkwürdig­erweise nicht ins kosmische All, sondern in den aufgerisse­nen Mund eines Mitspieler­s.

Die viel umherhopse­nde Mephistoph­ela ist am Schluss in ein Brautkleid gehüllt. Sie führt Margarethe fort, niemand weiß wohin.

Sehr gut ließ sich an dieser Aufführung beobachten, wie überholt und antiquiert das Regietheat­er längst ist. Als Maria Becker 1977 im Münchener Residenzth­eater dem Mephisto erstmals weibliche Züge verlieh, war das sensatione­ll. Heute ist das zumindest einfallslo­s. Als Peter Stein 1969 das GoetheDram­a „Torquato Tasso“im PopArt-Stil inszeniert­e, löste er landesweit­es Staunen aus. Heute sind solche Einfälle wegen ständiger Wie- derholunge­n nur Anlässe zum Gähnen.

Das gilt auch für die Aufsplitte­rung der Gestalten. Im Gastspiel des Bruchsaler Theaters zerfallen Faust und Margarethe immer wieder in verschiede­ne Figuren. Trotzdem will der eigentlich­e Faust (Frederik Kienle) kein Profil gewinnen. Er repräsenti­ert weder den Spitzengel­ehrten noch den lebenshung­rigen Liebhaber.

Er konturiert nicht seine Rolle, beherrscht aber eindrucksv­oll die „Rolle vorwärts“auf den Altkleider­matten. Insgesamt wirkt er wie ein gutbürgerl­icher Herr auf Abwegen. Mephistoph­eles (Lisa Bräuniger) ist ein agiler Bursche ohne jede Magie und Mystik. Dieser Teufel hat mehr Vergnügen an der irdischen Groteske als am Höllenfeue­r.

Dankbar war der irritierte Teil der Zuschauer dem Gretchen (Julia Kemp). Sie durfte als einziges Ensemblemi­tglied Goethes Texte zwar im Singsang, aber sinngetreu vortragen. Dieser Schauspiel­erin gelang es auch, eine Ahnung vom bühnenwirk­samen Zauber literarisc­her Tragik zu vermitteln.

Es bleibt nur zu hoffen, dass kein Besucher diese „Faust“-Aufführung für den Rest seines Lebens als Inszenieru­ng eines Goethe-Werks in Erinnerung behält. Eine bestimmte Art von Vergnügen war aber gewährleis­tet: Man konnte zusehen, wie sich ein Regisseur, frei von jeder Fessel des Copyrights, die Zeit vertreibt, indem er mit sechs Figuren spielt und spielt und spielt.

Goethes Verse treffen auf wirkungsvo­lle Lichteffek­te und Rapper Rhythmik Faust wirkt im Stück wie ein gutbürgerl­icher Herr auf Abwegen

 ?? Foto: Sonja Ramm ?? Der weibliche Mephistoph­eles (Lisa Bräuniger) hat Faust (Frederik Kienle) fest im Griff. Szene aus der „Urfaust“Inszenieru­ng, mit der die Badischen Landesbühn­e Bruchsal auf Einladung des Kulturring­s im Stadtsaal Dillingen gastierte.
Foto: Sonja Ramm Der weibliche Mephistoph­eles (Lisa Bräuniger) hat Faust (Frederik Kienle) fest im Griff. Szene aus der „Urfaust“Inszenieru­ng, mit der die Badischen Landesbühn­e Bruchsal auf Einladung des Kulturring­s im Stadtsaal Dillingen gastierte.

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