Wertinger Zeitung

Leben ohne Gott?

Während die großen Kirchen jedes Jahr hunderttau­sende Mitglieder verlieren, steigt die Zahl der Konfession­slosen weiter an. Was es bedeuten könnte, wenn sie in Zukunft die Mehrheit der Gesellscha­ft bilden

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Ebenso kirchliche Feiertage. Auch die Rolle kirchliche­r Institutio­nen wird sich verändern, mutmaßt Nass: „Kirchen werden mehr und mehr zu Museen, die man unter einem künstleris­chen Aspekt noch anschauen kann. Glocken verstummen zunehmend. Und kirchliche Vertreter, je nachdem wie sie auftreten, werden auch eher als museale Figuren wahrgenomm­en, für die viele kein Verständni­s mehr haben.“Eines bedauert er besonders: „Das Sprechen von und über Gott wird abnehmen.“

Die Kirche, die unsere Gesellscha­ft, unseren Alltag jahrhunder­telang geprägt hat, verblasst in ihrer Bedeutung. Bereits heute haben 86 Prozent der jungen Europäer kein oder sehr wenig Vertrauen in religiöse Institutio­nen. Das zeigt die europaweit­e Studie „Generation für die mehr als eine Million junger Menschen zwischen 18 und 34 Jahren befragt wurden und die repräsenta­tiv für mehr als 80 Millionen Menschen dieser Altersgrup­pe in ganz Europa steht. Selbst unter den Gläubigen steht die Hälfte der Befragten den kirchliche­n Institutio­nen misstrauis­ch gegenüber.

Doch woran liegt das? „Die zahlreiche­n Kirchen-Skandale und die aus Sicht der jungen Leute verkrustet­en und intranspar­enten kirchliche­n Strukturen sowie unterstell­ter mangelnder Modernisie­rungswille dürften hierfür ausschlagg­ebend sein“, heißt es in der Studie.

Wer mit David Farago spricht, sich über die Sichtweise­n säkularer Organisati­onen informiert oder das aktuelle Buch des Bestseller-Autors Philipp Möller, „Gottlos glücklich“, liest, der findet zahlreiche weitere Argumente. Dabei, und das betonen Möller, Farago und Co., wolle man niemanden in seiner religiösen Freiheit beschneide­n. Vielmehr richtet sich ihre Kritik gegen die Rolle der Kirche in unserer Gesellscha­ft: „Wir wollen niemanden zum Atheisten machen. Wir wollen nur, dass Religion Privatsach­e ist.“

Doch dafür müsste sich vieles ändern. In der Bildung zum Beispiel: „Wir haben zwar keine Staatsreli­gion“, sagt Farago, „aber das oberste Bildungszi­el in Bayern ist die Ehrfurcht vor Gott.“So steht es als erstgenann­tes von mehreren Zielen tatsächlic­h in der Bayerische­n Verfassung, Artikel 131, Absatz 2. „Das widerspric­ht allem, was Bildung eigentlich heißt: die Ehrfurcht vor etwas, das nie bewiesen wurde, kann nicht oberstes Bildungszi­el eines Bundesland­es sein“, kritisiert Farago. Auch die Rolle des Religionsu­nterrichts in staatliche­n Schulen wird in einer zunehmend konfession­sfreien Gesellscha­ft einen Wandel erleben: „Wir bevorzugen derzeit die große Weltreligi­on mit eigenem Unterricht in normalen Unterricht­szeiten mit einer Note, die versetzung­srelevant ist“, sagt Farago. Ist das noch zeitgemäß in der heutigen GeWhat“, sellschaft? Ein weiterer Kritikpunk­t ist die Kirchenste­uer – in Umfragen einer der meistgenan­nten Gründe für einen Kirchenaus­tritt. „Die Kirchen sind bereits milliarden­schwer, sie bräuchten diese Zahlungen nicht mehr“, sagt David Farago.

Zusätzlich zu 510 Milliarden Euro historisch bedingter Staatsleis­tungen sowie weiteren indirekten Subvention­en durch den Staat, deren Umfang aufgrund komplexer Finanzkonz­epte der Kirchen nirgendwo zentral dokumentie­rt wird, erhielten die Kirchen im Jahr 2016 mehr als elf Milliarden Euro Kirchenste­uer. Gerda Riedl, Leiterin der „Hauptabtei­lung für Grundsatzf­ragen: Glaube und Lehre“beim Bistum Augsburg, sagt: „Die Zahl derjenigen, die regelmäßig in Gottesdien­ste gehen, ist geringer als derjenigen, die bereit sind, uns finanziell zu unterstütz­en.“Aber wie viele Menschen würden jeden Monat acht Prozent ihrer Lohnsteuer an die Kirche spenden, wenn der Einzug nicht automatisc­h erfolgte? schmerzlic­h, zu sehen, dass diese Einladung zunehmend nicht mehr angenommen werde. „Aber für uns ist es kein Thema, ob wir Mehrheit oder Minderheit sind. Dass das Christentu­m bisweilen in der Minderheit ist, das kennen wir aus unseren Anfangstag­en.“

Ein Sprecher der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d sagt auf Anfrage: „Die Bedeutung von Kirche ist nicht nur eine Frage von Zahlen. Gerade in Ostdeutsch­land, wo in vielen Regionen nur zehn bis 20 Prozent der Bevölkerun­g Christen sind, zeigt sich, dass auch wenige Menschen ausstrahlu­ngsstark und kraftvoll Kirche sein können.“

Elmar Nass jedoch ist überzeugt: „Das Falscheste ist, wenn die Kirchen weiter so tun als wäre es nicht zu verhindern, dass wir jedes Jahr 300000 Menschen verlieren.“Dies habe eine fatale Außenwirku­ng. „Wenn wir uns selber damit abfinden, dass wir massiv schrumpfen, wirken wir nicht gerade attraktiv.“

Statt Diskussion­en über Kirchensch­ließungen, Strukturde­batten und Selbstzerf­leischung fordert Nass eine Rückbesinn­ung auf kirchliche Kernpunkte und eine klare Positionie­rung in gesellscha­ftlichen Debatten. Auch und gerade in Fragen zu Euthanasie, Pränataldi­agnostik, zur Behandlung von Frauen, Geschieden­en und Wiederverh­eirateten sowie Homosexuel­len in der katholisch­en Kirche. „Die Kirche vertritt manchmal unangenehm­e Positionen. Ich meine, dass die Kirche gar nicht sagen muss, was die Mehrheit sagt. Sie kann auch anecken – muss das aber auch begründen“, fordert Nass. „Sonst wirken wir unmenschli­ch, wie Ewiggestri­ge, die nur alte Phrasen wiederhole­n. Solche Themen nicht auszuklamm­ern, sondern zu benennen, sollte zu unserem Profil dazugehöre­n.“

Ob die Kirche als Institutio­n in Deutschlan­d sonst noch Bestand haben kann? Elmar Nass sagt: „Wenn ich mich in einen säkularen Menschen hineinvers­etze: Der schaut von außen auf die Kirche, sieht 300000 Menschen, die uns jedes Jahr den Rücken kehren, und der Kirche ist das scheinbar egal. Da würde ich mich als Außenstehe­nder auch fragen, was das für ein Verein ist.“

Die Kirchenste­uer – ein Grund für den Austritt

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