Bei der Windlotterie gibt es auch Verlierer
Wie fair ist die Freiluftsportart Skispringen? Oberstdorf hat gezeigt: Bonuspunkte rücken nicht alles zurecht
Oberstdorf Irgendwann waren es die Springer dann leid: Sie mussten in der Interviewzone von Oberstdorf ja fast mehr über das Wetter reden als über ihre Leistungen. Der Dauerregen, der beim ersten Wettkampf der Vierschanzentournee am Samstag über das ganze Allgäu niederging, lief zwar den 25500 Zuschauern in der ausverkauften Audi-Arena nass hinein. Die Springer störte er aber deutlich weniger als der Wind, der ständig die Richtung wechselte und den einen Athleten nach dem Absprung zu Boden drückte, dem nächsten aber schon wieder ein Luftkissen bot und zu einem unerwarteten Höhenflug verhalf.
„Wir sind nun mal ein Freiluftsport“, tröstete sich der 25-jährige Stephan Leyhe vom SC Willingen, der seinen Sprung bei einem Rückenwind von 1,27 Metern pro Sekunde schon nach 109,5 Metern landen musste. „Wenn du dir oben Gedanken übers Wetter machst, hast du schon verloren“, fasste der Sauerländer die Devise aller Athleten zusammen. Leyhe nahm sein Schicksal gelassen und haderte nicht mit Rang 24. Aber es gab andere, denen die Windlotterie schon beim ersten Springen so gut wie alle Chancen raubte auf eine Topplatzierung in der Tournee-Gesamtwertung. Die als Mitfavoriten gestarteten Norweger Daniel Andre Tande (Platz 20) oder der Ruhpoldinger Andreas Wellinger (10) beispielsweise erwischten so schlechte Bedingungen, dass sie ihren Traum vom Gesamtsieg schon in Oberstdorf begraben mussten.
Bei Sieger Kamil Stoch (Polen) standen mit 126 und 137 Metern nicht nur die größten Weiten in der Ergebnisliste, sondern mit 0,48 und 0,08 Metern pro Sekunde Rückenwind auch die geringsten Abweichungen zur Windstille – übrigens auch gestern beim Sieg in GarmischPartenkirchen. Renndirektor Walter Hofer machte keinen Hehl daraus, dass die Bedingungen in Oberstdorf „bei dem einen oder anderen mitgespielt haben“. Von einem unfairen Wettbewerb wollte er nicht sprechen, schließlich „sind die Spitzenleute ja wieder vorn“. Tande oder Wellinger hätten in diesem Moment vermutlich geräuspert, auch wenn sie für ihre schlechten Verhältnisse die meisten Kompensationspunkte gutgeschrieben bekamen.
Aber sind Windregel und Bonuspunkte wirklich gerecht? Darauf gab Hofer erst vor zwei Wochen in Engelberg eine aufschlussreiche Antwort: Weil man der öffentlichen Kritik aus dem Weg gehen wolle, dass mit diesem System nicht derjenige gewinnt, der am weitesten springt, habe man bereits nachjustiert; für Rückenwind gebe es jetzt mehr Kompensationspunkte als es für Aufwind Abzüge gibt. Und es würden nicht 100 Prozent, sondern nur etwa 70 Prozent kompensiert. „So erwecken wir den Eindruck, dass derjenige, der am weitesten springt, auch gewinnt. Wir wissen aber auch: Es ist nur eine Annäherung zu mehr Chancengleichheit“, sagte Hofer.
Immerhin: Das Regelwerk scheint ausgereift: Sowohl in Oberstdorf als auch in Garmisch gewann mit Kamil Stoch nicht nur der glücklichste Springer – sondern auch jener mit den weitesten Sätzen.
Für Richard Freitag läuft die Tournee glänzend. Nach zwei Springen schwebt der deutsche Adler auf Platz zwei. „Ritschi“, wie Bundestrainer Werner Schuster den eher spröden Sachsen nennt, hat sein Sach beinander. Er macht sein Ding, es läuft. Wortreich versuchen Springer und Trainer zu erläutern, was nur schwer zu ergründen ist: das Geheimnis des SkisprungErfolgs. Ein Kollege dagegen ist ratlos. Der mit vier Goldmedaillen erfolgreichste Skispringer in olympischen Einzelwettbewerben sollte eigentlich wissen, wie das mit dem Absprung, dem Flug und der Telemark-Landung funktioniert. Doch Simon Amman hatte am gestrigen Neujahrstag viel Zeit zu grübeln.
Der Schweizer vermasselte die Qualifikation und erlebte das Neujahrsskispringen nur als Zuschauer. Irgendetwas im Flugsystem des 36-Jährigen, der seit 21 Jahren von den Schanzen springt, passt nicht mehr. Ausgerechnet in Garmisch, wo Amman mit 143,5 Metern den Schanzenrekord hält, erlebte der Schweizer einen der bittersten Momente seiner Karriere.
Ebenfalls gescheitert, aber glücklich zeigt sich in diesen Tagen Fatih Arda Ipcioglu. Obwohl er in der Qualifikation von Oberstdorf und Garmisch mit den Plätzen 64 und 66 in der Qualifikation scheiterte, war der Springer im Pressebereich einer der gefragtesten Athleten. Der Grund: Ipcioglu schaffte es als erster Türke zur Vierschanzentournee. Im ostanatolischen Erzurum bereitete sich der Springer-Exot auf fünf verschiedenen Schanzen auf die Tournee vor. Auch als er sich vor einigen Jahren beide Beine brach und seine Mutter ihn bat, mit dem halsbrecherischen Sport aufzuhören, ließ sich Ipcioglu nicht von seinem Weg abbringen. Es fühle sich großartig an, hier zu sein, er genieße die Atmosphäre, erzählte der lächelnde Türke in die Mikrofone. Als es ernst wurde gestern in Garmisch, war der Anfänger in bester Gesellschaft: mit dem Großmeister Ammann oder auch dem japanischen Skisprung-Methusalem Noriaki Kasai.
Das Ziel von Ipcioglu, dessen Idol der 45-jährige Kasai ist, sind die Olympischen Spiele in Pyeongchang. Sein Weg dorthin führt nicht über die Tournee. Im zweitklassigen Continental-Cup muss der Außenseiter Fis-Punkte sammeln für sein Ticket nach Südkorea. Sollte er dort starten, dann muss der Athlet nur noch ein klitzekleines Problemchen lösen. Er muss den Türken, die bislang null Skisprung-Begeisterung zeigen, erklären, wie das so geht mit dem Fliegen und dem Landen. Und das ist der vielleicht schwierigste Job.