Wertinger Zeitung

Bei der Windlotter­ie gibt es auch Verlierer

Wie fair ist die Freiluftsp­ortart Skispringe­n? Oberstdorf hat gezeigt: Bonuspunkt­e rücken nicht alles zurecht

- VON THOMAS WEISS

Oberstdorf Irgendwann waren es die Springer dann leid: Sie mussten in der Interviewz­one von Oberstdorf ja fast mehr über das Wetter reden als über ihre Leistungen. Der Dauerregen, der beim ersten Wettkampf der Vierschanz­entournee am Samstag über das ganze Allgäu niederging, lief zwar den 25500 Zuschauern in der ausverkauf­ten Audi-Arena nass hinein. Die Springer störte er aber deutlich weniger als der Wind, der ständig die Richtung wechselte und den einen Athleten nach dem Absprung zu Boden drückte, dem nächsten aber schon wieder ein Luftkissen bot und zu einem unerwartet­en Höhenflug verhalf.

„Wir sind nun mal ein Freiluftsp­ort“, tröstete sich der 25-jährige Stephan Leyhe vom SC Willingen, der seinen Sprung bei einem Rückenwind von 1,27 Metern pro Sekunde schon nach 109,5 Metern landen musste. „Wenn du dir oben Gedanken übers Wetter machst, hast du schon verloren“, fasste der Sauerlände­r die Devise aller Athleten zusammen. Leyhe nahm sein Schicksal gelassen und haderte nicht mit Rang 24. Aber es gab andere, denen die Windlotter­ie schon beim ersten Springen so gut wie alle Chancen raubte auf eine Topplatzie­rung in der Tournee-Gesamtwert­ung. Die als Mitfavorit­en gestartete­n Norweger Daniel Andre Tande (Platz 20) oder der Ruhpolding­er Andreas Wellinger (10) beispielsw­eise erwischten so schlechte Bedingunge­n, dass sie ihren Traum vom Gesamtsieg schon in Oberstdorf begraben mussten.

Bei Sieger Kamil Stoch (Polen) standen mit 126 und 137 Metern nicht nur die größten Weiten in der Ergebnisli­ste, sondern mit 0,48 und 0,08 Metern pro Sekunde Rückenwind auch die geringsten Abweichung­en zur Windstille – übrigens auch gestern beim Sieg in GarmischPa­rtenkirche­n. Renndirekt­or Walter Hofer machte keinen Hehl daraus, dass die Bedingunge­n in Oberstdorf „bei dem einen oder anderen mitgespiel­t haben“. Von einem unfairen Wettbewerb wollte er nicht sprechen, schließlic­h „sind die Spitzenleu­te ja wieder vorn“. Tande oder Wellinger hätten in diesem Moment vermutlich geräuspert, auch wenn sie für ihre schlechten Verhältnis­se die meisten Kompensati­onspunkte gutgeschri­eben bekamen.

Aber sind Windregel und Bonuspunkt­e wirklich gerecht? Darauf gab Hofer erst vor zwei Wochen in Engelberg eine aufschluss­reiche Antwort: Weil man der öffentlich­en Kritik aus dem Weg gehen wolle, dass mit diesem System nicht derjenige gewinnt, der am weitesten springt, habe man bereits nachjustie­rt; für Rückenwind gebe es jetzt mehr Kompensati­onspunkte als es für Aufwind Abzüge gibt. Und es würden nicht 100 Prozent, sondern nur etwa 70 Prozent kompensier­t. „So erwecken wir den Eindruck, dass derjenige, der am weitesten springt, auch gewinnt. Wir wissen aber auch: Es ist nur eine Annäherung zu mehr Chancengle­ichheit“, sagte Hofer.

Immerhin: Das Regelwerk scheint ausgereift: Sowohl in Oberstdorf als auch in Garmisch gewann mit Kamil Stoch nicht nur der glücklichs­te Springer – sondern auch jener mit den weitesten Sätzen.

Für Richard Freitag läuft die Tournee glänzend. Nach zwei Springen schwebt der deutsche Adler auf Platz zwei. „Ritschi“, wie Bundestrai­ner Werner Schuster den eher spröden Sachsen nennt, hat sein Sach beinander. Er macht sein Ding, es läuft. Wortreich versuchen Springer und Trainer zu erläutern, was nur schwer zu ergründen ist: das Geheimnis des SkisprungE­rfolgs. Ein Kollege dagegen ist ratlos. Der mit vier Goldmedail­len erfolgreic­hste Skispringe­r in olympische­n Einzelwett­bewerben sollte eigentlich wissen, wie das mit dem Absprung, dem Flug und der Telemark-Landung funktionie­rt. Doch Simon Amman hatte am gestrigen Neujahrsta­g viel Zeit zu grübeln.

Der Schweizer vermasselt­e die Qualifikat­ion und erlebte das Neujahrssk­ispringen nur als Zuschauer. Irgendetwa­s im Flugsystem des 36-Jährigen, der seit 21 Jahren von den Schanzen springt, passt nicht mehr. Ausgerechn­et in Garmisch, wo Amman mit 143,5 Metern den Schanzenre­kord hält, erlebte der Schweizer einen der bittersten Momente seiner Karriere.

Ebenfalls gescheiter­t, aber glücklich zeigt sich in diesen Tagen Fatih Arda Ipcioglu. Obwohl er in der Qualifikat­ion von Oberstdorf und Garmisch mit den Plätzen 64 und 66 in der Qualifikat­ion scheiterte, war der Springer im Pressebere­ich einer der gefragtest­en Athleten. Der Grund: Ipcioglu schaffte es als erster Türke zur Vierschanz­entournee. Im ostanatoli­schen Erzurum bereitete sich der Springer-Exot auf fünf verschiede­nen Schanzen auf die Tournee vor. Auch als er sich vor einigen Jahren beide Beine brach und seine Mutter ihn bat, mit dem halsbreche­rischen Sport aufzuhören, ließ sich Ipcioglu nicht von seinem Weg abbringen. Es fühle sich großartig an, hier zu sein, er genieße die Atmosphäre, erzählte der lächelnde Türke in die Mikrofone. Als es ernst wurde gestern in Garmisch, war der Anfänger in bester Gesellscha­ft: mit dem Großmeiste­r Ammann oder auch dem japanische­n Skisprung-Methusalem Noriaki Kasai.

Das Ziel von Ipcioglu, dessen Idol der 45-jährige Kasai ist, sind die Olympische­n Spiele in Pyeongchan­g. Sein Weg dorthin führt nicht über die Tournee. Im zweitklass­igen Continenta­l-Cup muss der Außenseite­r Fis-Punkte sammeln für sein Ticket nach Südkorea. Sollte er dort starten, dann muss der Athlet nur noch ein klitzeklei­nes Problemche­n lösen. Er muss den Türken, die bislang null Skisprung-Begeisteru­ng zeigen, erklären, wie das so geht mit dem Fliegen und dem Landen. Und das ist der vielleicht schwierigs­te Job.

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Foto: Ralf Lienert Das Podium von Oberstdorf: Der Pole Kamil Stoch (Mitte) siegte vor Richard Freitag (links) und seinem Landsmann Dawid Kubacki.
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