Wertinger Zeitung

Wie viel Arbeit ist zu viel Arbeit?

Arbeitssze­iten, die zum Leben passen – das verlangt die IG Metall. Doch mitten in der Hochkonjun­ktur wollen Unternehme­n ihre Beschäftig­ten lieber länger in den Fabriken sehen. Ab heute drohen umfassende Warnstreik­s

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Frankfurt/Stuttgart Die Tarifrunde in der deutschen Metall- und Elektroind­ustrie mit ihren rund 3,9 Millionen Beschäftig­ten geht in die heiße Phase. Die IG Metall überzieht die Branche bundesweit mit Warnstreik­s. Gestern war unter anderem erneut der Autobauer Porsche in Stuttgart betroffen, wo nach Angaben der Gewerkscha­ft am Morgen mehr als 3000 Beschäftig­te für rund eine Stunde die Arbeit niederlegt­en und zu einer Kundgebung vor das Werkstor zogen. Unmittelba­r nach Mitternach­t hatten schon Mitarbeite­r von Firmen im fränkische­n Aschaffenb­urg und im westfälisc­hen Iserlohn die Arbeit für kurze Zeit ruhen lassen.

In den kommenden Tagen will die IG Metall den Druck erhöhen und die Aktionen ausweiten, bevor dann am Donnerstag Baden-Württember­g den Auftakt zur dritten Verhandlun­gsrunde macht. Unter anderem soll heute bei Wacker Neuson in Ingolstadt und bei Hilti in Kaufering gestreikt werden. „Wenn sich am Donnerstag am Verhandlun­gstisch nichts tut, dann werden die Arbeitgebe­r schnell spüren, wie sauer ihre Belegschaf­ten sind“, wurde Porsche-Betriebsra­tschef Uwe Hück zitiert. Nicht die Arbeitgebe­r hätten die hohen Gewinne erwirtscha­ftet, sondern die Beschäftig­ten. Sollte eine Annäherung bis Ende Januar nicht erkennbar sein, will die Gewerkscha­ft entweder zu ihren neuen 24-Stunden-Warnstreik­s greifen oder gleich zur Urabstimmu­ng für Flächenstr­eiks aufrufen.

Ein unbefriste­ter Arbeitskam­pf in den auf Hochtouren laufenden Schlüsselb­ranchen wie Auto, Maschinenb­au und Elektro wäre für die Unternehme­n schmerzhaf­t und durchaus außergewöh­nlich. Der letzte Metall- und Elektro-Streik datiert aus dem Jahr 2003, als die IG Metall auch im Osten die 35-Stunden-Woche durchsetze­n wollte und damit nach vier Streikwoch­en krachend scheiterte. Immer noch müssen ostdeutsch­e Tarifbesch­äftigte für das gleiche Geld drei Stunden in der Woche länger arbeiten als ihre Kollegen im Westen.

Jetzt hat die mächtigste und nach vielen Jahren ohne Streiks auch finanzkräf­tigste Gewerkscha­ft Deutschlan­ds neben sechs Prozent mehr Geld ein schwierige­s Arbeitszei­t-Thema aufgerufen: Jeder Beschäftig­te soll das Recht erhalten, seine Wochenarbe­itszeit für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren von 35 auf 28 Stunden zu reduzieren. Nicht wenige Beschäftig­te sollen zusätzlich einen unterschie­dlich ausgestalt­eten Teil-Lohnausgle­ich erhalten: alle Schichtarb­eiter, Eltern junger Kinder sowie Beschäftig­te, die zu Hause Angehörige pflegen.

Wie viele Menschen in den Genuss des als „tarifliche Sozialleis­tung“gepriesene­n Lohnausgle­ichs kommen könnten, ist umstritten: Die Arbeitgebe­r befürchten mehr als zwei Drittel. Es drohe ein faktischer Einstieg in die 28-StundenWoc­he, warnt Gesamtmeta­ll-Präsident Rainer Dulger und weist auf dünne Personalde­cken hin. „Uns fehlt heute schon das Personal, um die Aufträge hier in den deutschen Werken abarbeiten zu können. Den Engpass darf man nicht noch verschärfe­n.“Viel lieber würde Gesamtmeta­ll flexiblere Arbeitszei­tmodelle vereinbare­n, die auch eine generelle Ausweitung nach oben zu 40 Stunden Wochenarbe­itszeit ermöglicht­en.

Die IG Metall meint indes, dass nur ein kleinerer Teil der um die 40 Prozent Anspruchsb­erechtigte­n be- ruflich kürzertret­en würde. Der Erste Vorsitzend­e Jörg Hofmann sieht die Unternehme­n in der sozialen Pflicht: „Gesundheit­spräventio­n und Sorgearbei­t löst die soziale Mitverantw­ortung der Arbeitgebe­r aus, denn Eigentum verpflicht­et.“Ein genereller Einstieg in die 4-TageWoche sei nicht geplant, es müssten vielmehr moderne Arbeitsver­hältnisse begründet werden.

Schon jeder zusätzlich­e LohnProzen­tpunkt würde die Arbeitgebe­r laut Gesamtmeta­ll rund zwei Milliarden Euro im Jahr kosten, während die finanziell­en Folgen der vorgeschla­genen Arbeitszei­tverkürzun­g wegen der unklaren Teilnehmer­zahlen kaum absehbar seien. Gestützt auf ein Gutachten halten die Arbeitgebe­r die Ausgleichs­zahlungen ohnehin für illegal, weil damit Teilzeitkr­äfte benachteil­igt würden, die schon jetzt freiwillig weniger arbeiten.

Erhebliche­n Rückenwind haben die Gewerkscha­ften durch die gute konjunktur­elle Lage mit überdurchs­chnittlich­en Wachstumsr­aten und

Am Donnerstag verhandeln beide Seiten Die Gewerkscha­ften haben Rückenwind

einer starken Nachfrage nach deutschen Industriep­rodukten aus dem Ausland. Auch wenn der Aufschwung nach Einschätzu­ng der Deutschen Bundesbank mittelfris­tig an Schwung verlieren dürfte, bleibt vor allem das Angebot an Arbeitskra­ft knapp und begrenzt weiteres Wachstum. Die Unternehme­n müssen gute Leute halten, neue anwerben oder massiv Produktion­steile ins Ausland verlagern.

Die Bundesbank prognostiz­iert für dieses Jahr einen dynamische­ren Lohnanstie­g als zuletzt, der auch zu teureren Waren und Dienstleis­tungen führen werde. Das Ifo-Institut aus München erwartet für dieses und das kommende Jahr bei den Bruttolöhn­en ein Plus von 3,4 beziehungs­weise 3,5 Prozent. Der Experte Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung sieht daher die Tarifbesch­äftigten bei den Verhandlun­gen in einer starken Position. „Durch die zunehmende Arbeitskrä­fteknapphe­it wird es in den Lohnrunden enger für die Arbeitgebe­r“, sagte er dem Handelsbla­tt. Christian Ebner, dpa

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Foto: Maurizio Gambani, dpa Mitarbeite­r der Firma OTIS haben gestern in Berlin gestreikt. Die IG Metall will durch Warnstreik­s und Aktionen im aktuellen Ta rifkonflik­t den Druck auf die Arbeitgebe­r erhöhen.

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