Wertinger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (47)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Aber genauso gut kann es sein, denke ich heute im Rückblick, dass das in den Cottages herrschend­e Schweigege­bot in Bezug auf Abwesende sie daran gehindert hatte, wenigstens unter vier Augen über ihren Freund zu reden, und sie sich erst jetzt, weit fort von den Cottages, dafür frei genug fühlten.

Höflichkei­tshalber stimmte ich in ihr Gelächter ein. Tommy schien noch weniger zu begreifen als ich und gab zögerliche Ansätze eines Kicherns von sich, das immer etwas hinterher hinkte. Ruth hingegen konnte gar nicht aufhören zu lachen und nickte zu allem, was über Martin gesagt wurde, als hätte auch sie ihn in bester Erinnerung. Einmal, als Chrissie etwas wirklich Unverständ­liches sagte – irgendwas wie: „Ach, und das eine Mal, als er seine Jeans ausgezogen hat!“–, lachte Ruth hell auf und deutete in unsere Richtung, wie um Chrissie zu sagen: Komm schon, erklär’s ihnen, damit auch sie was zu lachen haben. Über das alles ging ich hinweg, aber als

Chrissie und Rodney zu diskutiere­n anfingen, ob wir Martin in seiner Wohnung besuchen sollten, sagte ich schließlic­h, vielleicht ein wenig kühl:

„Was genau macht er hier eigentlich? Warum hat er eine Wohnung?“

Es trat ein Schweigen ein, bis Ruth entnervt aufstöhnte und Chrissie sich über den Tisch zu mir beugte und bedächtig sagte, als spräche sie mit einem Kind: „Er ist ein Betreuer. Wozu sollte er sonst hier sein? Er ist jetzt ein richtiger Betreuer.“

Die anderen rückten ein wenig hin und her, und ich sagte: „Eben, genau das meine ich. Wir können ihn nicht einfach besuchen.“

Chrissie seufzte. „Okay. Wir sollen keine Betreuer besuchen. Wenn man es ganz streng nimmt. Sicher werden wir nicht dazu ermutigt.“

Rodney gluckste und setzte nach: „O nein, ganz bestimmt nicht! Sehr, sehr unartig ist es, ihn einfach zu besuchen.“

„Sehr unartig“, sagte Chrissie und schnalzte missbillig­end mit der Zunge.

Dann schaltete Ruth sich ein und sagte: „Kathy kann Unartigkei­t nicht ausstehen. Also sollten wir ihn lieber nicht besuchen.“

Tommy sah Ruth verwirrt an. Offensicht­lich konnte er nicht erkennen, auf wessen Seite sie stand, und ich war mir auch nicht sicher. Mir kam der Gedanke, dass sie den Zweck der Expedition nicht gefährden wollte und deshalb wohl oder übel für mich Partei ergriff, und ich lächelte sie an, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Tommy fragte unvermitte­lt:

„Wo ungefähr hast du denn Ruths Mögliche gesehen, Rodney?“

„Oh…“Jetzt, da wir an Ort und Stelle waren, schien Rodney das Interesse an der Frau weitgehend verloren zu haben, und ich sah einen bangen Ausdruck über Ruths Gesicht huschen. Schließlic­h sagte Rodney: „Es war an einer Abzweigung von der Hauptstraß­e, irgendwo am anderen Ende der Stadt. Natürlich könnte sie ihren freien Tag haben.“Als niemand etwas sagte, fügte er hinzu: „Sie haben ja freie Tage, wisst ihr. Sie sind nicht immer in der Arbeit.“

Als er das sagte, durchfuhr mich die jähe Angst, wir könnten alles ganz falsch verstanden haben; unseres Wissens benutzten die Veteranen Meldungen über gesichtete Mögliche oft nur als Vorwand, um Ausflüge zu unternehme­n, und rechneten gar nicht mit konkreten Ergebnisse­n. Ruth mochte derselbe Gedanke gekommen sein, denn sie wirkte jetzt äußerst beunruhigt, aber schließlic­h lachte sie auf, als hätte Rodney einen Witz gerissen.

Dann sagte Chrissie in veränderte­m Ton: „Weißt du, Ruth, vielleicht kommen wir in ein paar Jahren hierher, um dich zu besuchen. In dem schönen Büro, in dem du dann arbeitest. Ich wüsste nicht, wer uns dran hindern sollte.“

„Das stimmt“, sagte Ruth rasch. „Ihr könnt alle kommen und mich besuchen.“

„Es gibt wohl keine Regeln für Besuche bei Leuten, die in einem Büro arbeiten, oder?“, sagte Rodney. Er lachte plötzlich. „Das wissen wir gar nicht. Es ist uns tatsächlic­h noch nie untergekom­men.“

„Es wird schon in Ordnung sein“, sagte Ruth. „Sicher lassen sie euch. Ihr könnt alle kommen und mich besuchen. Außer Tommy natürlich.“

Tommy war bestürzt. „Wieso darf ich nicht kommen?“

„Weil du schon bei mir bist, Dummkopf“, sagte Ruth. „Ich behalte dich.“Wir lachten alle, Tommy wieder mit kleiner Verspätung.

„Ich hab von diesem Mädchen oben in Wales gehört“, sagte Chrissie. „Sie kommt aus Hailsham, war vielleicht ein paar Jahre vor euch dort. Es heißt, sie arbeite jetzt in einer Boutique. Einem richtig coolen Laden.“

Beifällige­s Gemurmel setzte ein, und eine Weile starrten wir alle verträumt in die Wolken.

„Ja, das ist eben Hailsham“, sagte Rodney schließlic­h und schüttelte wie verwundert den Kopf.

„Und dann war da noch dieser andere“– Chrissie wandte sich jetzt an Ruth – „dieser Junge, von dem du neulich erzählt hast. Der ein paar Jahre über euch war und jetzt Parkwächte­r ist.“

Ruth nickte nachdenkli­ch. Mir fiel ein, dass ich Tommy rasch einen warnenden Blick zuwerfen sollte, aber als ich mich ihm zuwandte, hatte er schon zu sprechen begonnen.

„Wer war das?“, fragte er verwirrt.

„Du weißt, wer es ist, Tommy“, sagte ich rasch. Ein Fußtritt unter dem Tisch oder sonst ein Wink mit dem Zaunpfahl war zu riskant: Chrissie hätte es mitbekomme­n. Deshalb sagte ich es in todernstem Ton, in dem eine Spur Überdruss mitschwang, als hätten wir Tommys ständige Vergesslic­hkeit alle gründlich satt. Das hatte allerdings nur zur Folge, dass Tommy noch immer nichts kapierte.

„Jemand, den wir gekannt haben?“

„Tommy, jetzt lass uns das nicht alles noch mal durchkauen“, sagte ich.

„Eines Tages wirst du dich noch einem Hirntest unterziehe­n müssen.“

Endlich schien der Groschen gefallen zu sein, und Tommy hielt den Mund.

Chrissie sagte: „Ich weiß, was für ein Glück ich habe, dass ich in den Cottages gelandet bin. Aber ihr aus Hailsham, ihr habt wirklich Glück.

Wisst ihr…“Sie senkte die Stimme und beugte sich wieder vor. „Da ist was, worüber ich schon lang mit euch reden wollte. Nur, in den Cottages geht es halt nicht. Bei den vielen langen Ohren.“

Ihr Blick wanderte reihum, dann heftete er sich auf Ruth. Auch Rodney beugte sich vor, plötzlich angespannt. Und irgendetwa­s sagte mir, dass wir jetzt zu dem kamen, was wiederum für Chrissie und Rodney der Zweck des Unternehme­ns war.

„Als Rodney und ich oben in Wales waren“, begann sie, „zu der Zeit hörten wir von diesem Mädchen in der Boutique. Wir hörten aber auch noch was anderes, etwas über Hailsham-Kollegiate­n. »48. Fortsetzun­g folgt

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