Wertinger Zeitung

Erfinden sich die Grünen wieder einmal neu?

Robert Habeck und Annalena Baerbock öffnen der Partei die Tür zur bürgerlich­en Mitte. Dazu musste sie in Hannover mit ehernen Prinzipien brechen

- VON MARTIN FERBER fer@augsburger allgemeine.de

Alles oder nichts. Robert Habeck hat den Grünen viel zugemutet – und gewonnen. In einer Partei, die Autoritäte­n grundsätzl­ich misstraut und von starken Führungspe­rsönlichke­iten nichts wissen will, begnügte sich der Kieler Umweltmini­ster nicht damit, nur zum neuen Parteichef gewählt zu werden, sondern zwang seine Partei geradezu, auf seine Bedingunge­n einzugehen und ihm bereits im Voraus ein starkes Mandat zu erteilen, quasi einen Blankosche­ck für die Zukunft. Seine Forderung, sein Ministeram­t für eine Übergangsz­eit behalten zu dürfen, war ein Tabubruch, eine Provokatio­n sonderglei­chen, gehört doch die Trennung von Amt und Mandat zur DNA der Grünen.

Doch die Partei sprang über ihren Schatten, mehr noch, sie sprengte auf ihrem Parteitag in Hannover in einem geradezu revolution­ären Akt ihre selbst angelegten Fesseln, die sie immer wieder eingeengt und gelähmt haben. Die Grünen änderten nicht nur ihre Satzung, um Habecks Wahl möglich zu machen, sondern warfen gleichzeit­ig auch noch die strenge Quotierung an der Spitze in den Mülleimer. Das alte Links-Rechts-Muster gilt nicht mehr, neben dem RealoMann Habeck steht die Realo-Frau Annalena Baerbock, die mehr sein wird als nur die Frau an Habecks Seite – eine starke Vorsitzend­e mit eigenen Vorstellun­gen.

Baerbock und Habeck, das verspricht eine andere Parteiführ­ung zu werden als das zerstritte­ne Führungsdu­o Peter/Özdemir. Der Wille, nach dem eher schleppend­en Wahlkampf, dem mäßigen Abschneide­n bei der Wahl und dem Scheitern der Jamaika-Sondierung­en einen kompletten Neuanfang zu wagen, die Rolle der Partei gegenüber der Fraktion zu stärken und nicht nur personell, sondern auch programmat­isch die Weichen für die Zukunft zu stellen, war in Hannover unübersehb­ar. In der Tat müssen sich die Grünen – wieder einmal – neu erfinden, um nicht, wie die SPD, aus der Zeit zu fallen.

Im Bundestag bleibt nur wenig Gelegenhei­t, sich zu profiliere­n, es drohen vier weitere Jahre in der Opposition. Die Partei hingegen kann über den Tag hinaus denken und vor allem von dem Sachversta­nd, der sich durch die Regierungs­beteiligun­g in den Ländern in unterschie­dlichsten Konstellat­ionen und Koalitione­n ergibt, profitiere­n, haben doch die Grünen längst die FDP als Scharnierp­artei in der Mitte abgelöst. Neue Themen braucht die Partei, die Konzentrat­ion auf den Umwelt- und Klimaschut­z, unveränder­t ihr Alleinstel­lungsmerkm­al, wird nicht reichen, will sie aus der Acht-Prozent-Nische herauskomm­en. Erwartet werden von ihr auch Antworten, wie der Zusammenha­lt der Gesellscha­ft neu organisier­t und ein weiteres Auseinande­rfallen in Gewinner und Verlierer der Globalisie­rung und Digitalisi­erung verhindert werden kann. Auch dafür stehen Baerbock und Habeck, die sich selber dem klassische­n Links-Rechts-Schema entziehen und die weitere Öffnung der Partei in die bürgerlich­e Mitte vorantreib­en werden, nicht zuletzt mit einem anderen Ton: nicht länger belehrend und moralisier­end von oben, sondern im Dialog und mit der Bereitscha­ft, zuzuhören.

Es bewegt sich etwas. Die beiden tradierten Volksparte­ien verlieren massiv an Bindungskr­aft, in der Union herrschen Merkel- und Seehofer-Dämmerung, die SPD leidet an sich selber. Die Grünen wollten regieren, nicht an ihnen scheiterte Jamaika. Ungewollt hat ihnen FDP-Chef Christian Lindner den Freiraum eröffnet, den die SPD so gerne für sich gewollt hätte – sie können sich in der Opposition neu erfinden. Habeck, der neue starke Mann der Grünen, wollte für diese Aufgabe ein starkes Mandat. Das hat er bekommen. Es fängt etwas Neues an.

Das alte LinksRecht­s-Muster gilt nicht mehr

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