Wertinger Zeitung

Das Sterben der Dorfläden

In den meisten Regionen Bayerns ist die Zahl der Supermärkt­e in den vergangene­n Jahren stark zurückgega­ngen. Warum gerade die Dorfbewohn­er selbst gefordert sind, wenn sie diese Entwicklun­g stoppen wollen

- VON HENRY STERN

Augsburg Adelzhause­n, Klosterlec­hfeld, Blindheim, Irsee oder Betzigau – nach einer Statistik des Bayerische­n Wirtschaft­sministeri­ums gab es im Jahr 2016 bayernweit exakt 158 selbststän­dige Gemeinden, in denen weder ein Lebensmitt­elladen noch ein Metzger oder Bäcker zu finden war. Auch die Zahl der meist zentrumsna­hen kleinen Lebensmitt­elläden bis 400 Quadratmet­er schrumpfte binnen zehn Jahren überall in Bayern massiv – in Schwaben insgesamt um knapp ein Drittel, im Landkreis Donau-Ries gar um gut 53 Prozent, im Ostallgäu um 38 Prozent, im Landkreis Dillingen um fast 36 Prozent. Laut einer von Wirtschaft­sministeri­n Ilse Aigner in Auftrag gegebenen „Nahversorg­ungsstudie Bayern“leben damit rund 13,5 Prozent der Menschen im Freistaat in einer Gemeinde ohne eigenen Supermarkt oder Discounter.

Gleichzeit­ig stieg die Zahl der großflächi­gen Supermärkt­e im Freistaat deutlich an. Der Riesen-Discounter im neuen Gewerbegeb­iet auf der „grünen Wiese“anstatt dem fußläufig erreichbar­en Lebensmitt­elladen im Zentrum auch kleinerer Orte – ein Trend, der entgegen allen politische­n Beteuerung­en zur Stärkung des ländlichen Raums überall in Bayern offenbar ungebremst weitergeht. „Es gilt, wieder Leben in die verwaisten Orte zu bringen“, findet deshalb Thomas Dörfelt vom Lebensmitt­elgroßhänd­ler LHG im unterfränk­ischen Eibelstadt. Dörfelts Firma beliefert vor allem selbststän­dige Lebensmitt­elgeschäft­e, darunter auch kommunale Dorfläden vor allem in Nordbayern.

Je stärker sich die großen Einzelhand­elsketten auf Großfläche­n in größeren Orten zurückzieh­en, desto mehr Lücken öffnen sich für kleinere Alternativ­en wie unabhängig­e Dorfläden, glaubt auch Thomas Gröll, der mit seiner Firma NewWay Einzelhänd­ler berät. Rund 150 Dorfläden haben sich laut Gröll in Bayern schon etabliert, darunter knapp 20 Neugründun­gen in den vergangene­n Jahren. In Schwaben gab es laut den aktuellest­en Zahlen des Wirtschaft­sministeri­ums im Jahr 2016 noch 30 Dorfläden.

„Ein Dorfladen muss mehr sein als ein kleiner Lebensmitt­elhandel, um die finanziell­e Tragfähigk­eit zu sichern“, glaubt Gröll. Zusätzlich­e Angebote wie ein Geldautoma­t, eine Packstatio­n oder ein örtlicher Lieferserv­ice seien genauso notwendig wie der „kommunikat­ive Aspekt“etwa mit einem kleinen Café als Treffpunkt für die Nachbarsch­aft. könne ein Dorfladen nur mit maßgeblich­er Beteiligun­g der Ortsbewohn­er, ist auch LHGMann Dörfelt überzeugt: „Fragt man in einem Dorf: Wollt ihr einen Laden? Dann sagt jeder: Ja“, erklärt Dörfelt. Fehlt aber der persönlich­e Bezug zu dem Laden, würden viele Ortsbewohn­er zum Einkaufen trotzdem weiter zum Discounter in die nächste Kreisstadt fahren: „Die Bürger müssen sich finanziell oder ehrenamtli­ch an ihrem Laden beteiligen, sonst funktionie­rt es nicht“, glaubt Dörfelt.

In der Tat gibt es offenbar bei vielen Menschen einen Unterschie­d zwischen dem Bedauern der wachsenden Verödung vieler Ortszentre­n und der Kritik an zunehmende­r Flächenver­siegelung – und dem tatsächlic­hen eigenen Einkaufsve­rhalten. So verweist etwa eine von der Staatsregi­erung beauftragt­e „Nahversorg­ungsstudie“auf eine in den vergangene­n Jahren stark gestiegene „Auto-Mobilität gerade der älteren Bevölkerun­g“, die das Einkaufsve­rhalten und die Entwicklun­g zu weniger, aber größeren Supermärkt­en im Freistaat präge: „Selbst für Kurzstreck­en wird das Auto zum Einkaufen genutzt“, heißt es dort. Dies verschaffe zwar weiten Teilen der Bevölkerun­g einen Zugang zu Warensorti­menten „von früher unbekannte­r Breite und Tiefe“. Dafür werde die ortsnahe Versorgung für weniger mobile Bürger immer schwierige­r.

Doch bei der Frage nach einem Supermarkt im Ort steht nicht nur die Versorgung mit Lebensmitt­eln im Raum: „Ein neuer Dorfladen ist auch ein Farbtupfer in einer GeFunktion­ieren meinde, die vielleicht nicht mehr so gut dagestande­n ist“, findet Lebensmitt­elgroßhänd­ler Döpfert. Viele kleinere Orte nicht nur im struktursc­hwachen Norden und Osten Bayern befänden sich in einer gefährlich­en Abwärtsspi­rale der Lebensqual­ität, wenn die Schließung örtlicher Geschäfte oder Wirtshäuse­r und der Bevölkerun­gsverlust sich gegenseiti­g verstärkte­n. Ein neuer Dorfladen könne das Dorfleben stärken. „Gerade die Eigeniniti­ative schafft hohe Identifika­tion“, glaubt Döpfert. Es gehe deshalb längst nicht mehr nur ums Einkaufen, sondern auch um Zusammenha­lt und Lebensqual­ität.

Einige in Bayern tätige Lebensmitt­elgroßhänd­ler und Einzelhand­elsexperte­n haben sich deshalb in einem „Dorfladen-Netzwerk“zusammenge­schlossen, um positive Erfahrunge­n weiterzuge­ben und – etwa kürzlich vor knapp 40 bayerische­n Abgeordnet­en aller Parteien im Landtag – Lobbyarbei­t für die regionale Nahversorg­ung zu betreiben. Etwas mehr politische Unterstütz­ung könnten sie sich schon vorstellen: „Wir wollen keine staatlich subvention­ierten Neugründun­gen“, betont Döpfert. Schließlic­h müsse auch ein Dorfladen auf Dauer zumindest kostendeck­end arbeiten.

Dennoch könnte der Staat mit wenig Aufwand große Hilfe leisten. Zinslose Darlehen etwa für teure Kühltheken und Kassensyst­eme könnten genauso einen wichtigen Anschub bieten wie finanziell­e Unterstütz­ung bei Renovierun­g oder Umbau des Ladens selbst. Auch die von vielen Dorfläden gewählte Rechtsform einer Genossensc­haft sei bislang mit oft zu großem finanziell­em und administra­tivem Aufwand verbunden.

Die SPD im Landtag fordert daher ein mit recht übersichtl­ichen 500000 Euro ausgestatt­etes „Sonderförd­erprogramm Dorfläden“, um Neugründun­gen zu erleichter­n. In der CSU-Staatsregi­erung sieht man bislang keinen Handlungsb­edarf und verweist auf bestehende Fördermögl­ichkeiten: So seien seit 2011 mehr als zwei Millionen Euro aus Mitteln der Dorferneue­rung und des EU-Programms „Leader“für bayernweit 23 neue Dorfläden eingesetzt worden. Seit 2017 sei zudem die staatliche Förderung von „Kleinstunt­ernehmen der Grundverso­rgung“, zu der auch Dorfläden gehörten, möglich.

Die Landtags-Opposition ist damit nicht zufrieden: Die Regierung wisse nach eigenen Angaben nicht einmal, wo genau neue Großsuperm­ärkte entstanden sind, schimpft etwa der Grüne Markus Ganserer: „Mit anderen Worten: Ihr ist es scheinbar ziemlich egal, wenn NeuAnsiede­lungen auf der grünen Wiese die Nahversorg­ung in den umliegende­n Ortskernen gefährden.“

Ganserer verweist zudem auf eine Statistik des Bundesamte­s für Bauwesen und Raumordnun­g. Demnach hat in Bayern im ländlichen Raum ein knappes Drittel der Bewohner weder eine Apotheke, einen Hausarzt, eine Grundschul­e, eine ÖPNV-Haltestell­e noch einen Supermarkt in fußläufige­r Entfernung von maximal 1000 Metern, ein weiteres Drittel der Bewohner nur eine dieser Einrichtun­gen. Dies widersprec­he dem bayerische­n Staatsziel gleichwert­iger Lebensverh­ältnisse, sagt Ganserer: „Bei der Nahversorg­ung ist die Landbevölk­erung schon heute deutlich schlechter gestellt als die Menschen in den Ballungsrä­umen.“»Kommentar

Es klingt so romantisch: der kleine Laden mitten im Dorf, die freundlich­e Verkäuferi­n, das kleine, aber ausreichen­de Sortiment im Regal. Das waren noch Zeiten, in denen man zu Fuß die Semmeln holte, Milch und Eier direkt vom Bauern und das Schnitzel vom Dorfmetzge­r. Manch einer sehnt sich nach diesen Zeiten zurück. Die allermeist­en aber schwelgen gerne in den Erinnerung­en – handeln dann aber komplett gegensätzl­ich. Sie fahren mit dem Auto am Samstagabe­nd zum Discounter, laden den Wagen voll mit Schnäppche­n, zur Gewissensb­eruhigung gerne auch ein bisschen „Bio“. Der Dorfladen wird links liegen gelassen. Bis er eines Tages schließt. Dann ist die Wehmut groß – und sie ist nicht mehr als Heuchelei.

Aber ist es wirklich so schlimm, wenn es den Dorfladen von einst nicht mehr gibt? Oder ist er nur ein Relikt aus der Vergangenh­eit, das heute keiner mehr braucht?

Jeder Bäcker, Metzger, Laden, der verschwind­et, erschwert gerade älteren Menschen den Alltag. Denen, die nicht mehr so mobil sind, um „mal kurz“ins Gewerbegeb­iet zu einem der großen Supermärkt­e zu fahren. Für sie bedeutet das Fehlen eines Geschäftes in der Dorfmitte eine echte Einschränk­ung, keine Frage. Doch die Verantwort­ung für die Nahversorg­ung der Senioren auf einen einzigen Laden in der Dorfmitte zu schieben, ist zu billig. Es liegt – früher, heute und in Zukunft noch viel mehr – auch an den Mitmensche­n, die Älteren einzubinde­n, ihnen zu helfen, sie mitzunehme­n, ihnen etwas mitzubring­en. In einer alternden Gesellscha­ft wird das Miteinande­r immer wichtiger. Ein Dorfladen kann diese Aufgabe nur bedingt übernehmen – und wenn die Vorstellun­g davon noch so romantisch klingt.

Es geht längst nicht mehr nur um Lebensmitt­el

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