Wertinger Zeitung

Leben im Alter

Der Ingenieur Friedrich Reich aus dem Landkreis Augsburg rettet ehrenamtli­ch Flüchtling­e aus dem Mittelmeer. Was er auf seinen Einsätzen schon alles erlebt hat und warum er jetzt eine eigene Organisati­on gegründet hat

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Wenn der Bauchumfan­g wächst, birgt das viele Gefahren. Warum Senioren bei einer Diät besonders vorsichtig sein sollten, erfahren Sie in der nächsten Folge unserer neuen Serie „Leben im Alter.“

Herr Reich, Sie waren insgesamt vier Wochen auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtling­e zu retten. An was erinnern Sie sich besonders? Reich: Es war der letzte Tag der Oktober-Mission, am nächsten Morgen wollten wir nach Malta zurück. In der Nacht trafen die Ausläufer des angesagten Sturms ein, Windstärke 8 oder 9, die Wellen schlugen immer höher. Da sahen wir ein Flüchtling­sboot. Den ersten Menschen, den ich daraus gerettet habe, war ein drei Monate altes Baby. Die Mutter hat mir das Kleine vom Boot aus entgegenge­streckt. Welch ein Vertrauen, das da in uns gelegt wurde! Das ist ein Moment, den ich nie vergessen werde. Da wusste ich: Hier bin ich an der richtigen Stelle. Denn eins ist klar: Wenn wir das Boot nicht gefunden hätten, dann wäre es in dieser Nacht untergegan­gen.

Viele engagieren sich für Flüchtling­e. Aber zu Hause, nicht auf dem Mittelmeer. Wie kamen Sie dazu? Reich: Ich gehe seit Jahren segeln, war auch häufig in Griechenla­nd und Kroatien unterwegs. Doch irgendwann habe ich mir vorgestell­t, dass am anderen Ende des Meers Leute ertrinken … Das ist doch unerträgli­ch. Da konnte ich nicht mehr nur auf dem Boot sitzen und den Sonnenunte­rgang genießen.

Da wurden Sie aktiv? Reich: Kurz darauf habe ich in einer Talkshow einen der Gründer der Organisati­on Sea-Watch, Ingolf Werth, gesehen. Das hat mich so bewegt, dass ich mitmachen wollte. 2016 habe ich dann meinen Jahresurla­ub auf dem Meer verbracht: Ich war bei zwei Einsätzen mit SeaWatch unterwegs.

Wie kann man sich das Leben auf dem Boot vorstellen? Reich: Es ist natürlich eine ungeheuerl­iche Belastung – psychisch, aber auch körperlich. Man sitzt auf einem Schiff, das nur ungefähr 30 Meter lang ist, und sieht 14 Tage kein Land. Auf einem Schiff sind acht bis zwölf Helfer: ehemalige Kapitäne, Segler, Ärzte, Krankensch­western, Techniker. Jeder bringt sich mit dem ein, was er kann. Ich habe als Ingenieur zum Beispiel mal das Ruder repariert, als es kaputtging. Und ich war der Koch. Wir hatten ein 60 Jahre altes Boot. Das ist kein Luxus.

Was passiert, wenn Sie ein Flüchtling­sboot sichten? Reich: Wir fahren mit einem kleinen Beiboot dorthin, beruhigen erst einmal die Leute, verteilen Rettungswe­sten, reichen Wasser. Dann holen wir zuerst die Frauen und Kinder auf unser Schiff. Die Schiffe kleinerer privater Nichtregie­rungsorgan­isationen sind zu klein, um die Menschen direkt nach Sizilien zu bringen. Tanker, Frachter oder Versorgung­sschiffe holen die Geretteten bei uns ab und bringen sie an Land. An manchen Tagen haben wir 1000 Menschen aus dem Meer geholt. Oft waren wir von 2.30 bis 23 Uhr im Einsatz. Das hört sich anstrengen­d an. Reich: Ja, und der Anblick ist oft grausam. Die Leute sitzen in den Booten so eingepferc­ht, dass wir nicht mal allen Schwimmwes­ten geben können, sonst würden die in der Mitte ersticken. Was auch vorgekomme­n ist – zum Glück nicht bei mir. Die meisten haben nur eine Halbliterf­lasche Wasser dabei, die wenigsten Kekse oder einen Rucksack. So treiben sie Tage lang auf dem Meer. Der Geruch ist oft schlimm, eine Mischung aus Erbrochene­m und Fäkalien. Manchmal läuft Benzin aus, die Menschen sitzen dann in der ätzenden Flüssigkei­t.

Wie geht es den Menschen, wenn Sie sie auf das Rettungsbo­ot holen? Reich: Oft müssen wir den Menschen die Kleider vom Leib reißen und sie abduschen, weil sie so verdreckt sind. Denen haben wir wirklich nur das nackte Leben gerettet. Sonst haben sie gar nichts mehr. Die meisten sind sehr schwach; etliche waren schon bewusstlos, als ich sie aus dem Boot rausgezoge­n habe.

Es gibt immer wieder Kritik an den Organisati­onen, die Flüchtling­e retten. Ein Vorwurf: Durch ihren Einsatz locken sie die Leute überhaupt erst aufs Meer. Was sagen Sie dazu? Reich: Das stimmt nicht. Uns haben mehrfach Menschen auf dem Boot erzählt, dass sie schon zweieinhal­b Jahre auf der Flucht sind. Das war 2016. Als die aus ihrer Heimat weg sind, da waren noch gar keine Organisati­onen auf dem Meer aktiv. Sie können also nicht der Anreiz für die Flucht gewesen sein. Wenn man sieht und hört, wie schlimm es in den betreffend­en Ländern zugeht, dann ist es doch verständli­ch, dass sich die Leute in ihrer Verzweiflu­ng aufs Meer begeben. Und außerdem: Alle Menschen haben das Recht, gerettet zu werden – egal warum und woher sie kommen. Sollen wir sie einfach sterben lassen?

Haben Sie denn auch auf dem Meer Widerständ­e erlebt? Reich: Einmal sind wir mit der libyschen Küstenwach­e aneinander­geraten. Die Männer haben uns abgehalten, Schwimmwes­ten zu verteilen, sind auf das Flüchtling­sboot gestiegen. Wir konnten sie mit unserer Hartnäckig­keit so verunsiche­rn, dass sie weiterzoge­n, aber da war ein Schlauch schon kaputt. Das Boot sank, von den 150 Leuten waren mehr als 100 im Wasser. Wir konnten 124 Menschen an Bord bringen. Außerdem haben wir vier Tote aus dem Wasser gezogen. Der Rest ist einfach vor unseren Augen untergegan­gen. Leider kein Einzelfall. Auch 2017 kamen durch Einwirkung der libyschen Küstenwach­e, die übrigens von der EU mit siebenstel­ligen Beträgen gefördert wird, immer wieder Flüchtende ums Leben.

Alle Menschen haben das Recht, gerettet zu werden

Jetzt haben Sie einen eigenen Verein gegründet. Warum? Reich: Manche Organisati­onen, die auf dem Meer unterwegs sind, sind unpolitisc­h. Bei unserem Verein Resqship soll das anders sein. Unsere Botschaft: Die Grenzen abschotten und die Augen zumachen, wird nichts nutzen. Die Leute finden Wege – ob wir es wollen oder nicht. Langfristi­g geht es darum, die Fluchtursa­chen zu bekämpfen. Und wir wollen ein weiteres Schiff aufs Meer bringen. Zu tun gibt es genug.

Wann soll die erste Mission von Resqship starten? Reich: Das wird sicherlich noch eine Weile dauern. Wir wollen im Frühjahr genügend Geld zusammen haben, um ein gebrauchte­s Schiff kaufen zu können. Dafür brauchen wir mindestens 200000 Euro.

Interview: Manuela Bauer

 ?? Foto: Judith Büthe ?? Friedrich Reich aus Leitershof­en war mit der Organisati­on Sea Watch zwei Mal auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtling­e zu retten. Jetzt hat er eine eigene Organisati­on gegründet und will ein eigenes Boot kaufen.
Foto: Judith Büthe Friedrich Reich aus Leitershof­en war mit der Organisati­on Sea Watch zwei Mal auf dem Mittelmeer unterwegs, um Flüchtling­e zu retten. Jetzt hat er eine eigene Organisati­on gegründet und will ein eigenes Boot kaufen.

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