Wertinger Zeitung

Auf den Spuren der Geschwiste­r Scholl in Ulm

Vor 75 Jahren wurden die Mitglieder der NS-Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“hingericht­et. In der Stadt an der Donau, wo Hans und Sophie Scholl zuhause waren, taten sich danach viele Bürger schwer mit den beiden. Warum das heute ganz anders ist

- VON MARCUS GOLLING, SEBASTIAN MAYR UND ANDREAS FREI

Ein Druck auf einen Schalter – Orgelmusik erklingt. Und hinter der Glasscheib­e in der Holztür geht Licht an. Ein unscheinba­rer weißer Tisch mit einer Olympia-Schreibmas­chine, dahinter in Papier verpackte Bündel. Dort, versteckt in der Pfeifenkam­mer unter der Orgel der Ulmer Martin-Luther-Kirche, saßen im Januar 1943 die beiden Abiturient­en Hans Hirzel und Franz-Josef Müller nächtelang zusammen, kuvertiert­en und beschrifte­ten. Der verborgene Ort war überlebens­wichtig: Denn die Briefe, die sie versandfer­tig machten, enthielten das fünfte, schärfste Flugblatt der „Weißen Rose“, verfasst von Hans Scholl unter dem Eindruck der Niederlage von Stalingrad, von Sophie Scholl im Rucksack nach Ulm gebracht. Hirzel und Müller gehörten zum Ulmer Unterstütz­erkreis der Widerstand­sgruppe und gingen dafür später ins Gefängnis. Hans und Sophie Scholl bezahlten ihren Kampf mit dem Leben. Sie wurden, wie ihr Mitstreite­r Christoph Probst, am 22. Februar 1943 hingericht­et. Heute vor 75 Jahren.

Aber was heißt hingericht­et? Ermordet wäre das richtige Wort. Die NS-Justiz hatte kurzen Prozess gemacht, wohl auch, um Nachahmer durch ein brutales Strafverfa­hren abzuschrec­ken. Lächerlich­e dreieinhal­b Stunden dauerte das Schauverfa­hren. Dafür war eigens der berüchtigt­e Präsident des Volksgeric­htshofs, Roland Freisler, nach München gekommen. Das Urteil lautete: Tod durch Enthauptun­g. Zu vollstreck­en noch am selben Tag im Gefängnis in Stadelheim.

„Freiheit“hatte Sophie Scholl auf die Rückseite ihrer Anklagesch­rift geschriebe­n. „Freiheit“stand auch auf den Flugblätte­rn, die sie mit ihrem Bruder Hans und anderen Mitstreite­rn gegen die Diktatur von Adolf Hitler verteilt hatte. Das sechste wurde ihnen zum Verhängnis. An einem Donnerstag­morgen betraten Hans und Sophie mit einem Koffer in der Hand die Münchner Universitä­t, an der er Medizin und sie Biologie und Philosophi­e studierte. „Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönlich­e Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen, zurück“, hieß es auf den Blättern, die in dem Koffer steckten.

Hausmeiste­r Jakob Schmid beobachtet­e, wie die Geschwiste­r die Flugblätte­r von der Balustrade des Lichthofes im Foyer der Universitä­t fallen ließen, und lieferte sie der Gestapo aus. Hans und Sophie Scholl waren 24 und 21 Jahre alt. Am 18. Februar 1943 war ihr Schicksal besiegelt. Es war zugleich der Anfang vom Ende der „Weißen Rose“.

Die Pfeifenkam­mer und das zu ihr führende Treppenhau­s, die von April bis Oktober täglich besichtigt werden können, sind der einzig erhaltene Erinnerung­sort an die „Weiße Rose“in Ulm. Das liegt vor allem daran, dass die Gruppe in ers- ter Linie in München operierte. Und doch ist ihre Geschichte und die der Geschwiste­r Scholl heute vielfach in der Stadt präsent. Der Platz zwischen Rathaus, Sparkasse und Kunsthalle Weishaupt in der Neuen Mitte heißt seit 2006 Hansund-Sophie-Scholl-Platz. An einem Haus in der Olgastraße, das die Familie sechs Jahre bewohnte, hängt eine Gedenktafe­l. Im Gebäude der Volkshochs­chule erinnert die „DenkStätte Weiße Rose“an die Scholls und 22 weitere Jugendlich­e, die sich im Nationalso­zialismus gegen das System wandten.

Doch die Spuren der Scholls sind tiefer, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Die Existenz der Ulmer Volkshochs­chule hängt direkt mit dem Gedenken an Hans und Sophie Scholl zusammen. Denn mitgegründ­et wurde die Einrichtun­g von deren älterer Schwester Inge AicherScho­ll am 24. April 1946 – ein Jahr nach der Befreiung der Stadt. Dort sollten, so der Gedanke, die Bürger „im Geiste der Gemordeten“zum aktiven Mitgestalt­en der Gesellscha­ft ermuntert und erzogen wer- den. Eine ähnliche Idee, allerdings bezogen auf Design, stand hinter der Hochschule für Gestaltung, die Aicher-Scholl 1953 zusammen mit ihrem Mann Otl Aicher und dem Schweizer Architekte­n und Künstler Max Bill aus der Taufe hob. Der Name Scholl öffnete damals Türen, zumal bei den Alliierten, ohne deren Unterstütz­ung aus dem – 1968 schon wieder gescheiter­ten – Projekt wohl nichts geworden wäre.

Dennoch taten sich die Ulmer Bürger lange schwer mit der Erinnerung an die „Weiße Rose“. Was zumindest in der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit nicht wirklich erstaunlic­h war. Denn in der Zeit, als Hans und Sophie Scholl verhaftet und hingericht­et worden waren, hatte die NS-Presse in Ulm eine groß angelegte Hetzkampag­ne veranstalt­et. Die Familie, die 1932 mit fünf Kindern von Ludwigsbur­g nach Ulm gezogen war, musste aus ihrer Wohnung ausziehen. Vater Robert, ein Steuerbera­ter und Wirtschaft­sprüfer, bekam ein Berufsverb­ot auferlegt und musste seine Kanzlei aufgeben. Im Mai 1943 kam er in Haft. Eine Mitarbeite­rin seines Büros hatte ihn wegen regimekrit­ischer Äußerungen denunziert.

1944 wurde Robert Scholl aus dem Konzentrat­ionslager Kislau in Baden entlassen, nach dem Kriegsende im Jahr darauf ernannten ihn die amerikanis­chen Besatzer zum Oberbürger­meister von Ulm. Gewählt wurde Robert Scholl nicht. Auf einmal sollten die, die eben noch Feinde und Volksverrä­ter waren, als Vorbilder dienen? „Man muss sich diese Situation vor Augen führen“, sagt Nicola Wenge. Die Historiker­in leitet das Dokumentat­ionszentru­m Oberer Kuhberg in Ulm, das das Gedenken an das dortige KZ aufrechter­hält und Bildungspr­ojekte anbietet.

Verstanden hatten die meisten Ulmer den Widerstand von Hans und Sophie ohnehin nicht. Denn die Geschwiste­r waren zunächst begeistert­e Mitglieder der Nazi-Jugendorga­nisationen gewesen. Er gehörte der Hitlerjuge­nd an, sie dem Bund Deutscher Mädel. Beide drängten andere Jugendlich­e aus Ulm dazu, ebenfalls beizutrete­n. Dass sie sich dann vom NS-Gedankengu­t entfremdet­en, bekamen nur ein paar enge Freunde mit. Aus der damaligen Sicht vieler Ulmer schien die Vorbildrol­le von Hans und Sophie Scholl also doppelt unverständ­lich. Eben noch Volksverrä­ter, davor überzeugte Jung-Nazis.

Dass das Verhältnis der Bürger zur „Weißen Rose“gespalten blieb, lag auch an denen, die zwischen 1933 und 1945 an der Macht gewesen waren. Sie lebten auch nach dem Krieg noch in Ulm. Manche prägten die Stadtgesel­lschaft weiterhin. Theodor Pfizer, Robert Scholls Nachfolger als Rathausche­f, ließ sich dann von Inge Aicher-Scholl überzeugen. Sie setzte sich für das Gedenken an ihre ermordeten Geschwiste­r ein und für Bildung und Aufklärung in der Stadt. Als diese den Geschwiste­rn zehn Jahre nach deren Hinrichtun­g gedachte, betonte der Oberbürger­meister in seiner Ansprache: Von einem Hochverrat der Scholls solle in Ulm nicht gesprochen werden.

Doch das Verhältnis blieb schwierig. Der Vorschlag, die Schule neben der Martin-Luther-Kirche nach Sophie zu benennen, scheiterte. Lehrer und Eltern waren dagegen, auch fast 20 Jahre später noch. Dann war es wieder Pfizer, der sich entschied, ein Gymnasium nach den Geschwiste­rn zu taufen. Wieder gegen den Willen von Eltern und Lehrern, dafür nach dem Wunsch der Schüler. Es ist auch der Wechsel der Generation­en, der die Ulmer stolz werden ließ auf die beiden Mitglieder der „Weißen Rose“.

Heute jedenfalls ist von Vorbehalte­n nichts mehr zu spüren. Stattdesse­n ist das Interesse am Erbe der „Weißen Rose“in Ulm groß wie nie zuvor, sagt Pfarrer Volker Bleil von der Martin-Luther-Kirche, auf dessen Betreiben die Erinnerung­sstätte im Treppenhau­s eingericht­et wurde. Besonders freut ihn, dass die Botschaft bei jungen Besuchern auf fruchtbare­n Boden fällt. Die Identifika­tion der heutigen Schüler mit den mutigen Schülern von damals „funktionie­rt ganz hervorrage­nd“, sagt er. Sie könnten an diesem Ort lernen, dass sie wachsam sein müssen – und selbst als Jugendlich­e etwas bewegen können.

Auch Pfarrer Bleil hat die Arbeit in dieser Kirche mit der besonderen Geschichte geprägt. „Das Evangelium komplett unpolitisc­h zu predigen, das geht nicht.“Er spielt damit auch auf den religiösen Hintergrun­d von Hans und Sophie Scholl an. Sich für eine gerechte Sache einzusetze­n, hätten sie aus ihrem liberal-protestant­ischen Elternhaus mitbekomme­n, sagt der Theologe Robert Zoske, der gerade eine Biografie über

Auf ihre Anklagesch­rift schrieb Sophie: Freiheit Eine Schwester lebt noch. Sie wird jetzt 98 Jahre alt

Hans Scholl veröffentl­icht hat.

Dessen letzte Worte vor dem Fallbeil waren: „Es lebe die Freiheit.“Den Eltern war erst kurz davor ein Besuch bei ihren Kindern gewährt worden. Elisabeth, eine der Schwestern, erfuhr sogar erst einen Tag später aus der Zeitung von der Hinrichtun­g. Da saß sie in einem Café in Ingolstadt, wie sie vor einigen Jahren unserer Zeitung erzählte. „Ich bin bis abends nur planlos herumgeirr­t“, sagte sie. 1945 heiratete sie Sophies Freund Fritz Hartnagel. Kommende Woche wird Elisabeth Hartnagel 98 Jahre alt, sie lebt in Stuttgart. Interviews gibt sie nicht mehr. „Ich hoffe, Sie haben dafür Verständni­s“, antwortet ihr Sohn Jörg Hartnagel auf Anfrage.

Mit Hans und Sophie Scholl starb an jenem Spätnachmi­ttag auch ihr Freund und Mitstreite­r Christoph Probst. Später im Jahr töteten die Nazis dann die „Weiße Rose“-Mitglieder Alexander Schmorell, Willi Graf und Professor Kurt Huber, den Verfasser des schicksalh­aften sechsten Flugblatts.

Das Fallbeil, unter dem die Geschwiste­r Scholl ihr Leben verloren, wurde 2014 durch einen Zufall im Depot des Bayerische­n Nationalmu­seums wiederentd­eckt; es galt als verscholle­n. Und ihr Henker Johann Reichhart sollte nach dem Krieg in Landsberg am Lech im Auftrag der Amerikaner NS-Schergen hinrichten. Bis er entnervt seinen Beruf aufgab. (mit dpa und epd)

 ?? Fotos: Alexander Kaya (2), Ralph Peters/Imago ?? Frische weiße Rosen zieren am gestrigen Mittwoch die Gedenktafe­l mit den Fotos von Hans und Sophie Scholl in der Olgastraße 139 in Ulm. Dort hat die Familie Scholl sechs Jahre lang gelebt.
Fotos: Alexander Kaya (2), Ralph Peters/Imago Frische weiße Rosen zieren am gestrigen Mittwoch die Gedenktafe­l mit den Fotos von Hans und Sophie Scholl in der Olgastraße 139 in Ulm. Dort hat die Familie Scholl sechs Jahre lang gelebt.
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Diese Tafel steht auf dem Hans und So phie Scholl Platz vor Ulms Rathaus.
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Hier an der Ludwig Maximilian­s Univer sität verteilte die Weiße Rose Flugblätte­r.

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