Wertinger Zeitung

Land ohne Hoffnung

Seit sieben Jahren tobt ein blutiger Krieg. Doch durch den Aufbruch zweier neuer Fronten droht ein beispiello­ses Schlachten

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul/Damaskus Syrien steht schon seit vielen Jahren für gnadenlose­n Krieg, massenhaft­e Vertreibun­g und enttäuscht­e Hoffnungen. Doch was sich in den letzten Tagen abspielt, ist ein beispiello­ser blutiger Irrsinn. Während die Schlacht um das Kurdengebi­et bei Afrin immer unübersich­tlicher wird, haben die massiven Angriffe auf das syrische Rebellenge­biet Ost-Ghuta weltweit die Sorge vor einer weiteren Eskalation verschärft. Die Bundesregi­erung verurteilt­e die Offensive der syrischen Armee als „Feldzug gegen die eigene Bevölkerun­g“. Regierungs­sprecher Steffen Seibert forderte Syriens Machthaber Baschar al-Assad auf, das „Massaker“in der Region zu beenden. Außerdem schlug Russland für heute eine Sondersitz­ung des UN-Sicherheit­srates zur Lage in Ost-Ghuta vor.

Bei den Angriffen dort wurden in den vergangene­n Tagen Aktivisten zufolge fast 300 Zivilisten getötet. Das eingeschlo­ssene Gebiet in der Nähe der Hauptstadt Damaskus erlebt eine der schlimmste­n Angriffswe­llen seit Beginn des Bürgerkrie­gs vor fast sieben Jahren. Unter den fast 300 getöteten Zivilisten seien mehr als 70 Kinder, erklärten die Menschenre­chtler.

Rund 300 Kilometer weiter nördlich ist die Lage ähnlich dramatisch. Dass die Türkei ihren Einmarsch als Interventi­on zur Terrorbekä­mpfung und zur Wiederhers­tellung von Ruhe und Ordnung im Nordwesten Syriens darstellt, halten Beobachter für Zynismus. Denn mehr als einen Monat nach Beginn der Aktion kann von einer Entschärfu­ng der Lage keine Rede sein. Der Vormarsch der türkischen Truppen gegen die Kurdenmili­z YPG kommt nur langsam voran, und jetzt erhalten die Kurden Unterstütz­ung von Milizen, die dem syrischen Staatschef und türkischen Erzfeind Baschar al-Assad ergeben sind. Ankara hat das Eingreifen der Damaskus-treuen Kräfte nicht verhindern können. Die Entwicklun­g macht eines deutlich: Ohne Absprache mit Assad wird der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Syrien nicht weiterkomm­en.

Offiziell schließt die Türkei solche Zugeständn­isse an Syrien aus. Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin warnte am Mittwoch, jeder Unterstütz­er der Kurden in Afrin sei ein „legitimes Ziel“für die türkische Armee. Der Präsident selbst spielte das Eingreifen der Assad-treuen Milizen als Einzelakti­on von „Terroriste­n“herunter, die ihr blaues Wunder erleben würden. Mit Artillerie­beschuss hatten die Türken am Dienstag versucht, das Vorrücken der syrischen Milizen zur Unterstütz­ung der YPG in Afrin zu verhindern, doch der Versuch scheiterte: Ein Kommandeur der Milizen sagte, dass seine Kämpfer in Afrin angekommen seien und das Feuer der Türken erwidert hätten.

Über die Hilfe für die Kurden aus Damaskus war bereits seit Wochen spekuliert worden. Assad ist zwar kein Freund der kurdischen Minderheit in Syrien, hat aber ein Interesse daran, den Türken eine Niederlage beizubring­en. Für Erdogan bedeutet Assads Schachzug zusätzlich­e Probleme, auch wenn bisher keine offizielle­n syrischen Regierungs­truppen in Afrin aufgetauch­t sind, sondern lediglich regierungs­treue Milizen. Der türkische Präsident hatte am Dienstag angekündig­t, seine Soldaten würden innerhalb weniger Tage mit der Belagerung der Gebietshau­ptstadt Afrin beginnen; doch mit der Verstärkun­g für die YPG durch die syrischen Kämpfer wächst der Widerstand gegen die türkische Armee.

Damit droht eine immer tiefere Verwicklun­g der Türken in den Syrien-Konflikt, was für Erdogan riskant ist: Er hat seinen Wählern eine Strafmissi­on gegen die Kurden versproche­n, nicht einen Krieg gegen Assad. Die Türkei sitze in Afrin in der Falle, hieß es in Twitter-Kommentare­n. So wächst mit jedem Tag deshalb der Druck auf Erdogan, etwas zu tun, was er seit Jahren partout vermeidet: den direkten Kontakt zu Assads Regierung zu suchen, um zu einer Verständig­ung zu kommen. (mit dpa, ska)

 ?? Foto: Abdulmonam Eassa, afp ?? Bis zur Erschöpfun­g arbeiten syrische Zivilschüt­zer, um verletzte Opfer der Bombenangr­iffe der syrischen Armee auf das von Re bellen kontrollie­rte Ost Ghuta aus den Trümmern zu retten.
Foto: Abdulmonam Eassa, afp Bis zur Erschöpfun­g arbeiten syrische Zivilschüt­zer, um verletzte Opfer der Bombenangr­iffe der syrischen Armee auf das von Re bellen kontrollie­rte Ost Ghuta aus den Trümmern zu retten.

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