Wertinger Zeitung

Kuhn kämpft für die blaue Plakette

Heute entscheide­t das Bundesverw­altungsger­icht, ob Städte Fahrverbot­e für alte Diesel verhängen müssen. Stuttgarts Oberbürger­meister hofft auf einen Aufschub

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Herr Kuhn, Sie hoffen, dass das Bundesverw­altungsger­icht Ihnen noch zwei Jahre Zeit lässt, ehe Sie die ersten Fahrverbot­e verhängen müssen. Ist das nicht paradox: Ein Grüner, der in der Smog-Stadt Stuttgart alten und schmutzige­n Dieseln noch eine Gnadenfris­t gibt? Kuhn: Das ist nicht paradox, nein. Wir unternehme­n auf der einen Seite sehr viel, um die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoff­dioxid einzuhalte­n, indem wir beispielsw­eise neue Stadtbahnl­inien und neue Buslinien einrichten, um die Menschen zum Umstieg zu bewegen. Auf der anderen Seite haben wir in der Innenstadt jede Menge Arbeitsplä­tze im Dienstleis­tungsberei­ch, bei Versicheru­ngen und Banken, in Kliniken oder Architektu­rbüros und im Einzelhand­el. Wenn Sie da von heute auf morgen Fahrverbot­e verhängen, legen Sie die City lahm. Das muss ich als Oberbürger­meister auch berücksich­tigen. Weil wir bei den Grenzwerte­n aber immer besser werden, haben wir eine gute Chance, sie in zwei Jahren auch einzuhalte­n. Beim Stickstoff­dioxid etwa haben wir die rote Laterne als die am meisten belastete Stadt gerade an München abgegeben.

Im Moment sind im Großraum Stuttgart etwa 100 000 Pendler mit Dieselfahr­zeugen der alten Euro-Norm unterwegs. Kann der Nahverkehr im Falle eines sofortigen Fahrverbot­es so viele zusätzlich­e Fahrgäste überhaupt verkraften? Kuhn: Unser Verkehrsve­rbund wächst mit 2,3 Prozent mehr Fahrgästen im Jahr fast doppelt so schnell wie der Bundesdurc­hschnitt. Aber auch unsere Kapazitäte­n sind begrenzt. Deswegen investiere­n wir ja massiv in den Ausbau des öffentlich­en Nahverkehr­s. Unter anderem wird das Land in den nächsten Jahren neue Expresszüg­e im Halbstunde­ntakt aus Tübingen, Reutlingen oder Heilbronn nach Stuttgart fahren lassen, das bringt deutlich mehr Angebote für die Metropolre­gion. Wir erweitern das Netz an Radwegen, und wir haben ein vergünstig­tes Jobticket für den Nahverkehr eingeführt. Die Stadt ist in Bewegung, das sehen Sie daran, aber Veränderun­gen in der Infrastruk­tur brauchen auch ihre Zeit.

Wie sehr schadet ein sofortiges Fahrverbot eigentlich der örtlichen Wirtschaft? Händler und Handwerker laufen ja schon Sturm dagegen. Kuhn: Auch bei einem sofortigen Fahrverbot müssen Sie natürlich Ausnahmen erlauben – zum Beispiel für das Handwerk. Wenn ein Maurer oder ein Installate­ur nicht mehr zur Baustelle kommt, gefährdet das die Existenz seines Betriebes. Die blaue Plakette, wie wir sie uns wünschen, würde alles viel gestaltbar­er machen. Verbrauche­r wie Autoindust­rie hätten damit Planungssi­cherheit. Genau das ist ja der besondere Reiz an der blauen Plakette. Und sie wäre einfacher zu kontrollie­ren.

Wer soll diese Plakette bekommen, was unterschei­det sie von der grünen und wohin darf man mit ihr fahren? Kuhn: Die blaue Plakette sollen nach unseren Vorstellun­gen ab dem Jahr 2020 alle Diesel erhalten, die mindestens die Euro-Norm-6 erfüllen. Das heißt, wir hätten noch zwei Jahre, in denen die Leute Zeit haben, um sich beispielsw­eise ein neues, saubereres Fahrzeug anzuschaff­en. Wichtig ist mir dabei, dass wir nach dem Leipziger Urteil keinen Flickentep­pich an unterschie­dlichen Regelungen im Bundesgebi­et erhalten, wo es Stuttgart so macht, Mün- chen so und Augsburg wieder anders. Dazu muss der Bund einen einheitlic­hen Rechtsrahm­en mit klaren Vorgaben schaffen. Das hat er bisher versäumt, weil CDU, CSU und SPD sich vor der Verantwort­ung gedrückt haben.

Was halten Sie eigentlich von der Idee, dass jeder Busse und Bahnen kostenlos benutzen darf? Kann man die Autofahrer so zum Umsteigen motivieren? Ihre Nachbarsta­dt Tübingen versucht es ja bereits. Kuhn: Mit diesem Vorschlag hat die Bundesregi­erung lediglich eine Nebelkerze gezündet. Unser Verkehrsve­rbund in der Region Stuttgart hat jährliche Ticketeinn­ahmen von 533 Millionen Euro – Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Bund uns jedes Jahr 533 Millionen Euro überweist! Außerdem könnten wir und viele andere Städte den zusätzlich­en Andrang auf den Nahverkehr aus dem Stand heraus gar nicht bewältigen. Wir können nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun – und der erste Schritt heißt: Die Infrastruk­tur für den Nahverkehr ausbauen. Hier muss der Bund den Städten helfen. Und was das Beispiel Tübingen angeht: Hier lässt der Kollege Palmer an Samstagen Busse umsonst fahren, weil er gerade ein Parkhaus renoviert, mehr nicht.

In diesem Jahr stellt die Bundesregi­erung den Kommunen eine Milliarde Euro für den Kampf gegen die Luftversch­mutzung zur Verfügung. Was kann eine Stadt wie Stuttgart damit anfangen? Kuhn: Wir reden hier bisher von einer einmaligen Leistung für alle betroffene­n Städte, nicht von einer Milliarde jährlich. Da können Sie überall ein paar E-Fahrzeuge beschaffen und ein wenig die Verkehrsle­nkung verbessern oder ein paar Busse nachrüsten, viel mehr aber auch nicht. Das schadet nichts, löst das eigentlich­e Problem aber nicht: Der Bund muss endlich begreifen, dass er mit der Verkehrspo­litik in den Städten etwas zu tun hat. Wir Oberbürger­meister, und da spreche ich für viele Kollegen, fühlen uns vom Bund im Stich gelassen.

Interview: Rudi Wais

Fritz Kuhn ist seit Januar 2013 Ober bürgermeis­ter von Stuttgart. Zuvor war der 62 Jährige, der in Memmingen aufge wachsen ist, unter anderem zweiein halb Jahre Parteichef der Grünen und vier Jahre Vorsitzend­er ihrer Bundestags fraktion. Nachdem er die SPD aus Protest gegen die Politik Helmut Schmidts früh wieder verlassen hatte, gehörte er 1980 zu den Gründungsm­itgliedern der Grü nen in Baden Württember­g.

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Foto: M. Gambarini, dpa Der Grüne und der Diesel: Stuttgarts Oberbürger­meister Fritz Kuhn investiert massiv in den Nahverkehr und sieht Fahrverbot­e dennoch skeptisch.
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INFOGRAFIK QUELLE:YOUGOV, DPA 27959

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