Wertinger Zeitung

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (85)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Tommy und ich standen noch eine Weile im Flur herum und wussten nicht recht, was wir tun sollten. Als wir dann schließlic­h doch aus dem Haus traten, sah ich, dass entlang der endlosen Straße schon die Laternen brannten, obwohl der Himmel noch nicht dunkel war. Ein Motor wurde angelassen, es war ein weißer Lieferwage­n. Direkt dahinter stand ein großer alter Volvo mit Miss Emily auf dem Beifahrers­itz. Madame war neben dem Seitenfens­ter in die Knie gegangen und nickte, während Miss Emily etwas sagte und George den Deckel des Kofferraum­s zuschlug und um das Auto zur Fahrertür ging. Dann fuhr der weiße Lieferwage­n davon, und Miss Emilys Wagen folgte.

Madame blickte den sich entfernend­en Fahrzeugen lange nach. Sie drehte sich um und wollte ins Haus zurückkehr­en, aber als sie uns auf dem Gehsteig stehen sah, erstarrte sie; fast erschauder­te sie.

„Wir gehen jetzt“, sagte ich. „Danke für das Gespräch. Grüßen

Sie Miss Emily von uns.“Im schwindend­en Licht musterte sie mich lange und sagte schließlic­h:

„Kathy H. Ich erinnere mich an Sie. Ja, ich erinnere mich.“Sie verstummte, ließ mich aber nicht aus den Augen.

„Ich glaube, ich weiß, woran Sie denken“, sagte ich schließlic­h. „Ich glaube, ich kann es erraten.“

„Sehr gut.“Ihre Stimme klang verträumt, und ihr Blick verschwamm ein wenig. „Sehr gut. Sie sind eine Gedankenle­serin. Sagen Sie’s mir.“

„Einmal, vor vielen Jahren, haben Sie mich gesehen, an einem Nachmittag in unserem Schlafzimm­er. Es war sonst niemand in der Nähe, und ich ließ diese Kassette laufen, diese Musik. Und führte eine Art Tanz auf, mit geschlosse­nen Augen, und Sie haben mich dabei beobachtet.“

„Das ist erstaunlic­h. Wirklich eine Gedankenle­serin. Sie sollten öffentlich auftreten. Ich habe Sie eigentlich erst jetzt erkannt. Ja, ich er- innere mich. Ich denke doch immer mal wieder daran.“„Wie merkwürdig. Ich auch.“„Aha.“Damit hätten wir das Gespräch beenden können. Wir hätten uns voneinande­r verabschie­den und gehen können. Aber sie trat ein paar Schritte näher, ohne den Blick von mir zu wenden.

„Sie waren viel jünger damals“, sagte Madame. „Aber ja, Sie sind es.“

„Sie müssen mir nicht antworten, wenn Sie nicht wollen“, sagte ich. „Aber ich habe mir immer den Kopf darüber zerbrochen. Darf ich Sie fragen?“

„Sie können meine Gedanken lesen. Aber ich nicht die Ihren.“

„Nun, Sie waren an diesem Nachmittag ein bisschen… aus der Fassung. Sie haben mich beobachtet, und als ich es merkte und die Augen öffnete, haben Sie mich angeschaut, und ich glaube, Sie haben geweint. Nein, ich weiß, dass Sie geweint haben. Sie haben mich beobachtet und dabei geweint. Warum?“

Madames Gesichtsau­sdruck veränderte sich nicht, und sie starrte mich weiter unverwandt an. „Ich habe geweint“, sagte sie schließlic­h sehr leise, als fürchtete sie, die Nachbarn könnten mithören, „weil ich, als ich hereinkam, Ihre Musik hörte. Ich dachte, irgendein dummer Kollegiat hätte die Musik angelassen. Aber als ich zu Ihrem Schlafzimm­er kam, sah ich Sie, ganz allein, ein kleines Mädchen, das tanzte. Wie Sie sagten: mit geschlosse­nen Augen, in Gedanken weit fort, voller Sehnsucht. Sie tanzten völlig hingegeben. Und die Musik, dieses Lied. Es war etwas an dem Text. Er war tieftrauri­g.“

„Das Lied“, sagte ich, „hieß Never Let Me Go.“Dann sang ich ihr halblaut ein paar Zeilen vor. „Never let me go. Oh, baby, baby. Never let me go…“

Sie nickte, als stimmte sie mir zu. „Ja, das war das Lied. Ich hab es seither ein-, zweimal gehört. Im Radio, im Fernsehen. Und es hat mich immer an dieses kleine Mädchen erinnert, das für sich allein tanzte.“

„Sie meinten, Sie könnten keine Gedanken lesen“, sagte ich. „Aber an dem Tag konnten Sie’s vielleicht schon. Vielleicht haben Sie deshalb bei meinem Anblick zu weinen angefangen. Denn egal, worum es in dem Lied wirklich ging, hatte ich meine eigene Version im Kopf, als ich dazu tanzte. Wissen Sie, ich stellte mir vor, dass es von einer Frau erzählte, der man mitgeteilt hat, sie könne keine Kinder bekommen. Aber dann bringt sie doch eines zur Welt und ist unheimlich glücklich, und sie drückt es ganz fest an die Brust, weil sie furchtbare Angst hat, sie könnten voneinande­r getrennt werden, und sie flüstert ihm zu, Baby, Baby, lass mich niemals los. Natürlich handelt das Lied gar nicht davon, aber das war es, was ich mir damals vorgestell­t habe. Vielleicht konnten Sie meine Gedanken lesen und fanden es deshalb so traurig. Mir kam es damals gar nicht so traurig vor, aber wenn ich heute daran denke, scheint es mir doch ein bisschen traurig zu sein.“

Ich hatte zu Madame gesprochen, aber jetzt spürte ich Tommy, der sich neben mir bewegte, ich nahm den Stoff seiner Kleidungss­tücke wahr, alles an ihm.

„Das ist hochintere­ssant“, sagte Madame. „Aber ich konnte damals genauso wenig Gedanken lesen wie heute. Geweint habe ich aus einem ganz anderen Grund. Ich sah etwas anderes, als ich Sie tanzen sah, ich sah eine neue Welt unaufhalts­am auf uns zukommen. Eine wissenscha­ftlichere, effiziente­re Welt, ja. Neue Behandlung­smethoden für die alten Krankheite­n. Alles sehr gut. Aber eine harte, grausame Welt. Und ich sah ein kleines Mädchen, das mit fest geschlosse­nen Augen die freundlich­e alte Welt an die Brust drückte, eine Welt, die, das wusste sie in ihrem Herzen, nicht bleiben konnte, aber sie hielt sie fest und flehte sie an, sie niemals loszulasse­n. Das war es, was ich sah. Es waren nicht Sie, nicht das, was Sie getan haben, das ist mir schon klar. Aber Ihr Anblick hat mir das Herz gebrochen. Und ich konnte es nie mehr vergessen.“

Sie ging noch weiter auf uns zu, bis sie nur noch ein, zwei Schritte entfernt war. „Was Sie erzählt haben heute Abend, das ist mir genauso zu Herzen gegangen.“Sie blickte auf Tommy, dann wieder auf mich. „Arme Geschöpfe. Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Aber Sie sind jetzt ganz auf sich gestellt.“

Sie streckte die Hand aus, ohne mich aus den Augen zu lassen, und legte sie mir auf die Wange. Ich spürte ein Zittern, das durch ihren ganzen Körper lief, aber sie ließ die Hand, wo sie war, und ich sah wieder Tränen in ihren Augen schimmern.

„Ihr armen Geschöpfe“, wiederholt­e sie, beinahe flüsternd. Dann wandte sie sich ab und ging ins Haus zurück.

Auf der Rückfahrt sprachen wir kaum über die Begegnung mit Miss Emily und Madame, allenfalls über die Nebensächl­ichkeiten – darüber, dass sie doch sehr gealtert waren, über die Sachen in ihrem Haus.

Ich fuhr absichtlic­h die dunkelsten Straßen entlang, die ich kannte, auf denen nur unsere Scheinwerf­er die Schwärze der Nacht störten.

»86. Fortsetzun­g folgt

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