Die SPD will raus aus dem Jammertal
Die Genossen im Zusamtal informierten sich bei Unterbezirks-Vorsitzendem Dietmar Bulling über den Koalitionsvertrag. In einem Punkt sind sie sich einig: Sie wollen jetzt nach vorne schauen
Wertingen Stephanie Horntrich will sich einmischen und „nicht die Bühne anderen Parteien überlassen“, wie sie sagt. Die 30-jährige Studentin aus Roggden hat bereits ihren Stimmzettel abgeschickt. „Ich bin für eine neue Große Koalition.“Doch jetzt will die junge Genossin hören, was Dietmar Bulling zur GroKo sagt. Der SPD-Vorsitzende des Unterbezirks Dillingen kam am vergangenen Montagabend nach Wertingen. Vor rund zwei Dutzend SPD-Mitgliedern und Interessierten stellte er die Vorteile einer neuerlichen Regierungsbeteiligung heraus: „Der Koalitionsvertrag trägt eine klare sozialdemokratische Handschrift.“
Das ist für Bulling, der selbst seit 40 Jahren mit Herzblut für die Ideale der SPD kämpft, wie er von sich erzählt, der entscheidende Punkt. Gerechte Löhne, unbefristete Arbeitsverhältnisse, garantiertes Rentenniveau, Milliarden für Bildung und Ausbau von Ganztagsschulen, mehr Kindergeld, Pflegekräfte und Landärzte, Abschaffung der Abgeltungssteuer, Eingrenzung der Zuwanderung und sozialer Wohnungsbau: Auf 177 Seiten sind die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags mit der CDU/CSU festgehalten. Jedem SPD-Mitglied wurde er mit der Parteizeitung per Post zugeschickt.
Vor Bernd Arndt liegt das dicke Papier. Er hat etliche Stellen markiert, über die er unzufrieden ist: „Der große Wurf ist das nicht“, bemängelt er. Thomas Weigel aus Nordendorf stimmt ihm zu: „Nur 8000 Pflegekräfte mehr einzustellen ist ein Witz.“Außerdem findet er es beschämend, dass vonseiten der großen Volkspartei zu wenig gegen die zunehmende Verrohung der Sprache im Parlament unternommen werde.
Dass die Erinnerungskultur immer mehr Schaden durch Populisten der AfD nimmt, treibt Thomas Weigel die Zornesröte ins Gesicht: „SPD-Mitglieder haben unter den Nazis gelitten und sind in Konzentrationslagern gestorben, das darf man nicht vergessen.“Der SPD werde es nicht gedankt, wenn sie in die GroKo geht, glaubt Weigel.
Unzufrieden zeigt sich auch Peter Schallmoser-Schlögl über die Ver- handlungsergebnisse: „Die SPD muss ihre Forderungen höher hängen. Zwölf Euro sollten es beim Mindestlohn schon sein.“Denn von 8,50 Euro könne keiner leben. Wolfgang Zenetti, ehemaliger SPDler, heute Mitglied der Linken, rät der SPD, zuzugeben, dass die Agenda 2010 unter Schröder ein Fehler war. Dass Martin Schulz mit dem Begriff „Gerechtigkeit“einen Hype ausgelöst habe, sei für ihn ein eindeutiges Indiz dafür.
„So schlecht steht die SPD nicht da“, findet dagegen Georg Rathgeb aus Lauterbach. Aus Gesprächen mit Freunden und Arbeitskollegen weiß er, dass viele aus Protest rechts gewählt hätten und dann über die Folgen erschrocken seien. Im Ernstfall würden sie wieder zu den großen Volksparteien zurückfinden. Rathgeb, der anfangs ein Gegner der GroKo war, hat inzwischen seine Meinung geändert und für den vereinbarten Koalitionsvertrag gestimmt. „Die SPD muss Gas geben, dann kehrt sie wieder zu alter Stärke zurück“, ist er zuversichtlich.
Nach der Achterfahrt gebe die SPD tatsächlich ein verheerendes Bild ab. Doch wie sich die SPD in einer Oppositionsrolle erneuern könnte, ist Dietmar Bulling schleierhaft, hat sie doch schlechte Erfahrungen in Bayern gemacht: „Hier sind wir seit 60 Jahren in der Opposition.“
Für Bulling, den Zweiten Bürgermeister von Lauingen, gibt es nur eine Chance, die Partei aus dem Jammertal herauszuführen: „In der GroKo eine gute Arbeit zu machen.“Nach zwei Jahren würden die Ziele noch mal unter die Lupe genommen. Das habe es beim letzten Koalitionsvertrag nicht gegeben. Ein Nein bringe die SPD nicht weiter. Im Gegenteil. Die SPD müsse Verantwortung tragen, um überleben zu können. Ohne Regierungswillen werde es außerdem schwer, bei der nächsten Landtagswahl im nächsten Jahr einen erfolgreichen Wahlkampf zu betreiben. Eine Minderheitsregierung würde der SPD schaden, befürchtet Bulling: „Dann hat Frau Merkel das Spiel in der Hand.“
Georg Rathgeb appellierte an die Genossen, Kante zu zeigen und nach vorne zu schauen. „Immer nach hinten zu schauen, um festzustellen, was verkehrt war, bringt uns nicht weiter.“In puncto Digitalisierung und Internetkontrolle müsste die SPD unbedingt nachverhandeln, findet der Wertinger Peter Schallmoser-Schlögl. Das Thema sei in seinen Augen „total untergegangen“. Otto Horntrich, SPD-Stadtrat in Wertingen, anfangs ein Gegner der GroKo, ist nun vom Koalitionsvertrag überzeugt: „Wir besetzen wichtige Ministerien, und dort können wir gute Arbeit leisten.“So wie 1969. „Da ging die SPD gestärkt aus der GroKo.“
Eine leichte Aufbruchstimmung ist an diesem Abend zu spüren, trotz unterschiedlicher Meinungen. Dietmar Bulling setzt vor allem auf junge Hoffnungsträger, auf mehr Euphorie und Begeisterungsfähigkeit: „Ich bin zuversichtlich, dass es läuft.“Die Menschen wollten jetzt endlich eine stabile Regierung, und die SPD könne auf ihre sozialen Errungenschaften aufbauen.
Die Zeit läuft Spätestens am heuti gen Mittwoch müssen SPD Mitglieder ihre Stimmkarte zur Post bringen, wenn ihr Votum mitzählen soll. Bis zum 2. März muss der Brief im Postfach einge gangen sein.