Wertinger Zeitung

Bei Amokalarm greift der Notfallpla­n

In den USA erschießen immer wieder Attentäter Menschen an High Schools. Auch an Bayerns Schulen gibt es oft Drohungen. Wie schützen sie sich?

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg „Amoklauf am JakobFugge­r-Gymnasium. Heute.“Mehr als diesen Satz sagt der Anrufer in der Einsatzzen­trale des Augsburger Polizeiprä­sidiums nicht. Innerhalb von Sekunden machen sich alle verfügbare­n Beamten auf den Weg zu der Schule in der Augsburger Innenstadt, sperren das Gebäude mit rund 800 Schülern großräumig ab. Schüler und Lehrer wissen in dem Moment der Todesangst genau, was sie zu tun haben: in den Klassenzim­mern bleiben, von innen absperren, möglichst weit weg von Türen und Fenstern. So steht es im Sicherheit­skonzept für Amoklagen – jede Schule im Freistaat muss ein solches haben.

Schulleite­r Wilhelm Kugelmann und sein Team haben das Konzept zusammen mit der Polizei entwickelt, die am Tag des vermeintli­chen Amoklaufs im Dezember 2013 die Schule mit Maschineng­ewehren durchsucht und am Ende Entwarnung geben kann. Obwohl der Alarm schon vier Jahre her ist, denkt Kugelmann gerade wieder öfter daran, nachdem in der US-Stadt Parkland ein Attentäter in seiner alten Schule 17 Jugendlich­e und Lehrer erschoss. „Man hofft immer, dass dieser Kelch an einem vorbeigeht“, sagt der erfahrene Pädagoge.

Das Kultusmini­sterium fragt die Notfallplä­ne der einzelnen Lerneinric­htungen regelmäßig ab – zuletzt im Herbst 2017. Alle staatliche­n Schulen in Bayern hätten ein aktuelles Konzept vorweisen können, betont eine Sprecherin. Offenbar fühlen die Schulvertr­eter sich damit gut vorbereite­t, denn bei der Überprüfun­g seien „keine Fragen an die Schulaufsi­cht herangetra­gen“worden.

Am Augsburger Jakob-FuggerGymn­asium ist der Einsatzpla­n 13 Seiten lang. Er umfasst detaillier­te Lagepläne jedes Stockwerks, Notfallnum­mern, Ansprechpa­rtner für den Ernstfall – und natürlich die Handlungsa­nweisungen für Schüler und Lehrer. Längst hat der Schulleite­r auch die automatisc­he Durchsage eingesproc­hen, die vor einer bedrohlich­en Situation im Haus warnt. In einem Punkt hat die Schule ihr Konzept nach der Drohung im De- zember 2013 nachgebess­ert: Die Schüler sind jetzt ganz konkret angewiesen, ihre Smartphone­s bei einem Amokalarm auszulasse­n. Wenn 800 Schüler ihre Eltern oder Freunde anrufen, sei das zwar „menschlich verständli­ch“, sagt Kugelmann, „aber kontraprod­uktiv“. Diesen Punkt habe das schulinter­ne Sicherheit­skonzept 2013 nicht ausreichen­d berücksich­tigt.

Doch alle Eventualit­äten sind bis heute nicht geregelt. Was passiert etwa, wenn ein Kind auf dem Gang unterwegs ist, während die Alarmdurch­sage durchs Haus schallt? So konkret sei der Plan nicht, sagt Kugelmann. „Sie können eine solche

Coburg 2003 Der 16 jährige Flori an K. zieht in seiner Realschule eine Waffe. Er verletzt damit zwei Lehrerin nen und erschießt sich selbst.

Ansbach 2009 Georg R., ein 18 jähriger Gymnasiast, wirft Brandsätze in zwei Räume seiner Schu le und schlägt mit einem Beil auf die Flüchtende­n ein. Er verletzt neun Men Ausnahmesi­tuation nicht bis ins Detail vorhersehe­n. Manchmal muss man dann an den gesunden Menschenve­rstand appelliere­n.“Die Polizei in Schwaben betont, dass die Sicherheit­skonzepte sehr wohl „sehr ins Detail gehen“. Wie sehr, dazu will sich ein Sprecher des Präsidiums Schwaben-Nord in Augsburg nicht äußern: „Natürlich liegt uns viel daran, diese Umstände nicht im Detail zu veröffentl­ichen, da mögliche Täter die Kenntnis dieser Maßnahmen ausnutzen könnten.“

Anders als ein Feueralarm wird der Amokfall in der Praxis allerdings nicht mit den Schülern geprobt. Zwar fänden Übungen statt, schen teils schwer und wird 2010 zu neun Jahren Jugendstra­fe verurteilt.

Memmingen 2012 Ein 14 jähriger Schüler der Lindenschu­le gibt in der Mensa einen Schuss ab, läuft auf einen Sportplatz und feuert dort weiter. Verletzt wird niemand. Das Gericht verurteilt ihn zu viereinhal­b Jahren Jugendhaft. (sari) aber in der Regel nur mit Einsatzkrä­ften der Polizei und den Lehrern. Der Polizeispr­echer begründet das damit, dass „Schüler und Eltern durch derartige Übungen nicht verunsiche­rt oder verängstig­t werden sollen“. Wichtig sei im Amokfall die profession­elle Zusammenar­beit von Polizei und Lehrerscha­ft.

Nach Amokläufen wie in Erfurt 2002 und in Winnenden 2009 gab es in Deutschlan­d immer wieder Forderunge­n, Sicherheit­sbeamte vor den Schultüren zu postieren oder Metalldete­ktoren zu installier­en. In den USA forderte Präsident Donald Trump nach dem Attentat von Parkland sogar, Lehrer zu bewaffnen. Im Kultusmini­sterium herrscht eine klare Meinung dazu: „Bei uns in Bayern ist Schule ein geschützte­r Ort, aber er kann nicht zu einem Hochsicher­heitstrakt gemacht werden. Denn Schule ist immer auch Lebens- und Lernraum.“

Der Augsburger Schulleite­r Wilhelm Kugelmann und seine Schüler wissen übrigens bis heute nicht, wer ihnen 2013 den Schreck ihres Lebens eingejagt hat. Und das wird sich nach all den Jahren wohl auch nicht mehr ändern. »Kommentar

Wenn die Polizei in Bayern zum Amok-Einsatz an einer Schule gerufen wird, ist es meistens ein Fehlalarm. Doch jede Meldung über einen solchen Fall zeigt, dass auch bei uns die Gefahr eines Attentats immer da ist.

Schüler lesen von solchen Alarmen, diskutiere­n darüber, erinnern sich an Fälle, bei denen wirklich Menschen starben. Umso weniger ist nachvollzi­ehbar, dass sie den Ernstfall an ihrer eigenen Schule nicht proben. Man wolle sie durch einen Probealarm nicht verunsiche­rn, heißt es von Polizei und Schulen. Doch es macht die Schüler sicher noch viel nervöser, wenn sie eben nicht aus dem Effeff wissen, wie sie im Ernstfall richtig handeln. Eine Probe mit vorheriger Ansage brächte Sicherheit.

Gegner solcher Amok-Übungen argumentie­ren, dass im schlimmste­n Fall ein potenziell­er Angreifer mitübt und ihm seine Tat so erleichter­t wird. Doch ein gutes Notfallkon­zept ist ja nicht dazu da, einen Täter auszutrick­sen, sondern Sicherheit unter jedweden Umständen zu garantiere­n. Es funktionie­rt, egal wer der Attentäter ist und wie viel Vorwissen er hat.

Nichts spielt einem bewaffnete­n Angreifer mehr in die Hände als Menschen, die in Panik geraten. Die Sicherheit­spläne an Bayerns Schulen beinhalten alles, um das zu verhindern. Jeder im Haus sollte sie kennen – auch Schüler. Man muss sie nicht vor ihren eigenen Ängsten schützen, sondern vor Tätern, die zu allem bereit sind.

Bayerische Fälle aus den vergangene­n 15 Jahren

 ?? Foto: Daniel Karmann, dpa ?? Jugendlich­e bangen am Ansbacher Gymnasium Carolinum um ihre Mitschüler: Das Bild entstand im September 2009, nachdem der psychisch kranke Schüler Georg R. acht Mitschüler teils schwer und einen Lehrer leicht verletzt hatte.
Foto: Daniel Karmann, dpa Jugendlich­e bangen am Ansbacher Gymnasium Carolinum um ihre Mitschüler: Das Bild entstand im September 2009, nachdem der psychisch kranke Schüler Georg R. acht Mitschüler teils schwer und einen Lehrer leicht verletzt hatte.

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