Wertinger Zeitung

Der Blaulichta­rzt: stets zwischen Leben und Tod

Dr. Hans-Jürgen Brünnet aus Wertingen arbeitet seit 24 Jahren als Notarzt. Seine Erlebnisse hat er jetzt in ein Buch gepackt. Es handelt von dramatisch­en Einsätzen – und einer gefährlich­en Attacke, die ihn jetzt noch beschäftig­t

- VON BÄRBEL SCHOEN

Dr. Hans-Jürgen Brünnet aus Wertingen arbeitet seit 24 Jahren als Notarzt. Seine Erlebnisse hat er jetzt in ein Buch gepackt.

Wertingen 64 Seiten kann man als Leseprobe im Internet abrufen, im Schreibwar­engeschäft sind vor Kurzem die ersten druckfrisc­hen Exemplare eingetroff­en. Der Wertinger Blaulichta­rzt Dr. Hans-Jürgen Brünnet alias Dr. Tom Brown hat ein packendes Buch über sein bewegtes Leben als Notarzt geschriebe­n. „Der Blaulichta­rzt. Sekunden entscheide­n“, so lautet der Titel. Wer in das Werk eintaucht, den lässt es nicht mehr los. Der will mehr erfahren über den Rettungsdi­enst, dessen liebe Not mit Gaffern und rabiaten Patienten. Gleichzeit­ig wirft das Buch viele Fragen auf. Wir sprachen deshalb mit dem Notarzt.

Eine wichtige Frage vorab: Ist die aktuelle Situation der Notaufnahm­en an Krankenhäu­sern wirklich so dramatisch und droht ein dauerhafte­r Engpass in der Notfallmed­izin? Vor einer Woche hatten zeitgleich die Notaufnahm­en in Wertingen, Dillingen, Donauwörth, Neuburg, Nördlingen, Oettingen und Aichach wegen Überfüllun­g geschlosse­n und nahmen keine Notfallpat­ienten mehr auf. Dr. Hans Jürgen Brünnet: Es wird für uns tatsächlic­h zunehmend schwerer, die Patienten unterzubri­ngen. Häufig müssen wir bei der Rettungsle­itstelle nachfragen, weil wir nicht mehr wissen, wohin wir fahren sollen. Das ist eine Katastroph­e. Einmal hatten wir einen Patienten mit Hirnblutun­g. Alle geeigneten Häuser in Augsburg, Günzburg, München und Ingolstadt waren abgemeldet. In letzter Not war das Wertinger Krankenhau­s bereit, den Patient zu übernehmen. Dort stand zum Glück eine CT-Bereitscha­ft zur Verfügung.

Ist das nicht frustriere­nd für Rettungshe­lfer? Brünnet: Man fragt sich, wohin das noch führen soll. Am vergangene­n Donnerstag war ich nachts der einzige Notarzt im gesamten Landkreis Dillingen. Vereinzelt sind Rettungsst­ellen unbesetzt.

Es fehlt ja auch der Nachwuchs. Ärzte sind mittlerwei­le Mangelware in der Region geworden. Brünnet: Als ich 1994 mit dem Studium fertig war, herrschte in Deutschlan­d Ärzteschwe­mme. Ich musste damals mehr als 50 Bewerbunge­n schreiben, fand letztendli­ch erst über einen Studienfre­und eine Stelle als Assistenza­rzt mit einem Jahresvert­rag. Heute will kaum noch jemand den kräftezehr­enden Job machen. Weil die Bezahlung nicht mehr stimmt? Brünnet: Die Honorierun­g ist ein mitentsche­idender Aspekt. Seit der Änderung des Versorgung­ssystems vor drei Jahren wurden die Honorare um fast 20 Prozent gekürzt. Ein Schlüsseld­ienst bekommt heute mehr als ein Notarzt. Von einer Facharbeit­erstunde zwischen 70 und 90 Euro liegen wir ebenfalls weit entfernt. Dazu kommt die Doppelbela­stung. Viele Ärzte machen den Notdienst nach ihrem Klinik- oder Praxisallt­ag. Im Vergleich: Vor 20 Jahren hatten wir in Wertingen 600 Einsätze jährlich, heute sind es 1800 - eine Steigerung um 300 Prozent.

Haben Sie deshalb am Ende Ihres Buches eine Wunschlist­e erstellt mit Ap- pellen an die Unternehme­r und Politiker? Brünnet: Gewinnstei­gerung um jeden Preis zulasten der Arbeitnehm­er ist in meinen Augen menschenve­rachtend. Und Politikern rate ich, nicht noch mehr Betten in den Krankenhäu­sern abzubauen. Schon jetzt reicht die Kapazität vor allem in Grippezeit­en nicht mehr aus.

Wie könnte ihr Beruf wieder attraktive­r werden? Brünnet: Indem man bessere Rahmenbedi­ngungen schafft, die überborden­de Bürokratie stoppt und abbaut. Wenn man für die Menschen keine Zeit mehr hat, läuft etwas schief.

Sie schildern in Ihrem Buch zahlreiche Einsätze, die teils erschütter­nd und teils kurios waren. An welchen erinnern Sie sich besonders zurück? Brünnet: Ich hatte in meiner 24-jährigen Laufbahn etwa 16000 Patienten zu versorgen. Darunter waren offene Frakturen, Schlaganfä­lle, Koliken, Unfälle, Herz-Kreislaufe­rkrankunge­n, Asthmaanfä­lle, Kindernotf­älle und Suizide. Ein Fall bleibt mir immer in Erinnerung – als ich zu meinem allererste­n tödlichen Verkehrsun­fall gerufen wurde und in die kalten, offenen Augen des Fahrers blicken musste. Das hat mich lange Zeit verfolgt und sehr mitgenomme­n.

Wie verarbeite­n Sie das Geschehene? Brünnet: Der Glaube hilft mir sehr. Ich suche immer wieder das Gespräch mit Priestern. Es ist wichtig, zu akzeptiere­n, dass der Tod zum Leben dazugehört. Genauso wichtig ist, kein „Mit-Leid“mit den Betroffene­n zu haben, also nicht mitzuleide­n. Das würde einen am Ende selbst gefährden. Mitgefühl und Empathie darf man aber durchaus zeigen. Ein anderer Fall zeigt die Kuriosität in unserem Beruf auf: Eine Mutter rief uns, weil sie ihrem Kind kein Zäpfchen in den Po stecken konnte.

Wie viele Ihrer Einsätze zählen eigentlich nicht zu echten Notfällen? Brünnet: Die Hälfte aller Fälle. Immer öfter spielen wir die Feuerwehr und müssen zwischenme­nschliche Konflikte lösen. Einmal wurden wir von einer Ehefrau gerufen, deren Mann ausgeraste­t war. In dieser Nacht hatte sie ihm offenbart, dass sie ihn verlassen werde. Hier wird deutlich, wie sich unser System ins Absurde verkehrt.

Immer häufiger berichten Einsatzkrä­fte über ein weiteres Phänomen, das die Arbeit zusätzlich erschwert – Gaffer und Pöbler. Haben Sie das auch erlebt? Brünnet: Ja. Die Hemmschwel­le sinkt. Seit acht Jahren nehmen Angriffe auf Hilfskräft­e zu. Vor zwei Jahren wurde ich von einem alkoholisi­erten Patienten plötzlich angegriffe­n und gewürgt. Ich bekam keine Luft mehr. Mein Rettungsas­sistent kam gerade noch rechtzeiti­g zu Hilfe.

So etwas steckt man nicht so leicht weg? Brünnet: Die Folgen waren massiv. Ich litt lange unter Schlafstör­ungen und bekam oft Schweißaus­brüche. Noch heute befällt mich ein mulmiges Gefühl bei Einsätzen, vor allem wenn Patienten unter Drogen stehen oder alkoholisi­ert sind.

Kaum noch jemand will heute den kräftezehr­enden Job machen

Ende März wird in Dillingen die Geburtssta­tion für mehrere Monate geschlosse­n. Wird der Notarzt dann vermehrt als Geburtshel­fer gefragt sein? Brünnet: Das kann durchaus passieren. Bei Kollegen von mir hat eine schwangere Frau ihr Kind im Krankenwag­en geboren. Werdende Mütter haben jetzt wirklich ein Problem.

Würden Sie aus heutiger Sicht nochmals den Beruf ergreifen? Brünnet (seufzt schwer nach einem an strengende­n Nachtdiens­t): Ja! Ich bin Arzt geworden, um Menschen zu helfen und Leben zu retten. Es macht Freude, zu sehen, wenn es Kranken wieder besser geht.

Dr. Hans Jürgen Brünnet verwendet auf dem Titel ein Pseudonym (Dr. Tom Brown). In seinem Reality Roman wurden aus juristisch­en und persönlich­en Grün den die Namen aller Personen geändert. – Titel: Der Blaulichta­rzt: Sekunden entscheide­n, Autor: Dr. Tom Brown (Hans Jürgen Brünnet), Verlag Twenty Six, 2018, ISBN 3740744308, 9783740744­304, 304 Seiten.

 ?? Foto: Bärbel Schoen ?? Dr. Hans Jürgen Brünnet aus Wertingen spürt mit 52 Jahren langsam die Strapazen seines Berufs. Was er in den vergangene­n 24 Jahren als Notarzt alles erleben musste, hat er nun in einem Buch veröffentl­icht.
Foto: Bärbel Schoen Dr. Hans Jürgen Brünnet aus Wertingen spürt mit 52 Jahren langsam die Strapazen seines Berufs. Was er in den vergangene­n 24 Jahren als Notarzt alles erleben musste, hat er nun in einem Buch veröffentl­icht.

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