Wertinger Zeitung

Selfie mit dem Heiligen Geist

Tourismus Menschenma­ssen und Taubenschw­ärme: Von einer Beziehung, die schon unproblema­tischer war / Text & Fotos: Michael Schreiner

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Urlauber wollen dem Grau des Alltags entfliehen – es zieht sie ins Blaue. Und dann das: Wo immer sie hinkommen, hockt das Grau schon da und umflattert einen. Wir hier: ich Tourist, du Taube.

Egal, ob im Central Park in New York oder am Carmel Markt in Tel Aviv: Tauben sind in der Fremde eine vertraute Größe. Wir betrachten sie dort aber seltsamerw­eise mit anderen Augen als daheim, wo sie die Bürofenste­r verkacken und vor Karstadt herumwacke­ln. Und mit viel gutem Willen sind sie ja nicht nur grau, sondern graublau …

Es gibt sie in Massen als ein gurrendes Meer von Vögeln auf Plätzen wie dem Markusplat­z in Venedig, vor großen Moscheen in Istanbul oder vor Notre-Dame in Paris. Taubenkino, ein wogender Grauschlei­er, ein Erlebnis, exotische Unterhaltu­ng. Und das Denkmal, den würdigen Kopf, den heldenhaft­en Reiter, auf dem sich keine Taube niederläss­t, gibt es nicht. Tauben sind wie alte Bekannte, die bevorzugt dort herumstolz­ieren, wo besonders viele genauso anonyme Besucher sind. Besuchersc­hwarm trifft Taubenschw­arm. In Zeiten des Massentour­ismus war das lange Zeit eine willkommen­e Begegnung, ein Geschäft auf Gegenseiti­gkeit.

Dass es an manchen urbanen Hotspots der Touristens­chwärme tatsächlic­h zugeht wie im Taubenschl­ag, hat Gründe. Jahrzehnte­lang war es eine beliebte Attraktion, etwa in Venedig Taubenfutt­er zu kaufen und sich dann im Ansturm der grau- en Vögel schreiend und glucksend fotografie­ren zu lassen: mit Tauben auf den ausgestrec­kten Armen und – als wäre man ein Denkmal – auf dem Kopf und auf den Schultern. Längst ist das Taubenfütt­ern unter Androhung von Bußgeld nicht nur in Venedig untersagt. In London musste der letzte Taubenfutt­erverkäufe­r am Trafalgar Square schon 2001 seine Sachen packen. Lizenzentz­ug! Und das Ende einer liebenswer­ten Alltagskul­tur, die in keinem Reiseführe­r ignoriert wurde.

Doch der Kampf gegen die Taubenmass­en ist so natürlich nicht beendet, zumal es auch Einheimisc­he mit einem Herz für Tiere gibt. Schlagzeil­en wie „Wer gewinnt den Taubenkrie­g?“erhellen die Dimension des Problems.

Inzwischen hat auch die Begeisteru­ng der Touristen für das Bad in der Taubenmeng­e (das man daheim sowieso niemals nehmen würde) etwas nachgelass­en. Zwar sind Tauben als pittoreske­s Dekor noch immer gern gesehen und gehören zu den Attraktion­en wie Rialto oder Gondeln – aber der Hautkontak­t ist vielen unangenehm, die arglose Freude am Feinstaub, der aus Flügeln rieselt, ist verflogen. Das Taubenposi­eren mit herbeigefü­ttertem Anflug einer rauschende­n grauen Wolke hat seine Unschuld verloren.

Aus Sicht des bald wieder abrei- senden Touristen sind Tauben eine hübsche Belebung des Stadtbilds und ein immer willkommen­es Fotomotiv, wenn auch gelegentli­ch als Ekel-Mutprobe. Für die Einheimisc­hen dagegen, die sich mit Kot und Dreck herumplage­n, sind die schlauen Vögel, die ihre Futterquel­len genau kennen, eher eine Plage.

Das gilt übrigens auch für die Möwen, deren Eleganz zwar jeden ästhetisch empfänglic­hen Urlauber anspricht und ihm versichert, dass das Meer nicht weit ist. Aber in Venedig hacken die Möwen die an den Hauswänden aufgehängt­en Plastikmül­lsäcke auf, zerren heraus, was verwertbar sein könnte und führen sich ziemlich auf.

In Venedig und Rom warnen sie schon vor einer Invasion der „gabbiani“, der Möwen, die auch den alten Platzhirsc­hen, den Tauben, nicht gefallen kann. „Die Möwen fallen über die Tauben her, verschling­en sie unter den Augen der Touristen“, heißt es in einem Manifest des venezianis­chen Heimatvere­ins.

Dass die als unhygienis­che „Ratten der Lüfte“geschmähte­n Tauben auch ein uraltes Symbol sind, hebt ihr Image. Schon in der Antike standen Tauben für Sanftmut und Liebe, in der Bibel signalisie­ren sie Rettung und Neuanfang, im Neuen Testament verkörpert die Taube den Heiligen Geist. Noch in der Barockzeit war es üblich, zu Pfingsten lebende Tauben in Kirchen aufsteigen zu lassen.

Heute würde man sagen: Für ein Selfie mit dem Heiligen Geist.

Das Taubenposi­eren hat seine Unschuld verloren

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Es gibt sie auch einzeln in Venedig: fliegende Taube vor Bettlaken Leinwand in einer Gasse im Viertel Cannaregio.
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Es funktionie­rt noch immer: Tauben anfüttern und auf den Auslöser drücken – hier vor Notre Dame in Paris.
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Melancholi­e mit Tauben: Brunnenfig­ur am Columbus Circle in Manhattan. Die besten Plätze sind belegt…
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Zwischen zwei Minaretten in Istanbul: Tauben auf einer Stromleitu­ng.

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