Wertinger Zeitung

Sevilla! Von der Schulbank aus?

In zwei Wochen lässt sich das eigene Spanisch schon verbessern. Unglaublic­h ist, wie viel Spaß und wie viele neue Eindrücke damit verbunden sind

- / Von Richard Mayr

Im Gepäck sind keine Shorts und keine Badehosen, dafür jede Menge Kärtchen – weiße, gelbe, blaue. Im Flugzeug werden sie ein letztes Mal durchgeseh­en. Urlaubsvor­bereitunge­n der anderen Art: mit Vokabelkar­tei. Der erste Tag beginnt gleich frühmorgen­s mit einem Test. Es ist acht Uhr, Sevilla, dieses Wunderwerk von Stadt in Südspanien liegt noch im Tiefschlaf. Vor der Sprachschu­le stehen einige Schüler – die Neuen. Der reguläre Unterricht beginnt erst eine Stunde später. Zur Begrüßung werden Fragebogen verteilt, ein Sprachtest auf Spanisch, während der Kopf noch gar nicht wach ist. Eine endlose Reihe an Fragen, die schnell nicht mehr zu beantworte­n sind. Als das Einstufung­s-Gespräch mit dem Lehrer folgt, stellt sich die Frage, ob das wirklich eine gute Idee ist: zwei Wochen Sprachurla­ub in Sevilla – als Anfänger.

Man könnte ja auch nur diese Stadt genießen, die eben wirklich ein Wunderwerk ist. Über Generation­en und Jahrhunder­te hinweg haben die Baumeister und Handwerker an diesem Labyrinth von einer Innenstadt gearbeitet. In diesem Gewirr aus engen und noch engeren Straßen können sich selbst Taxifahrer nur mit dem Smartphone auf dem Schoß fortbewege­n. Allein Google-Maps findet sich hier noch problemlos zurecht. Die andere Möglichkei­t ist: Sich treiben lassen, sich ständig verlaufen, um ständig Neues zu sehen. Das wird selbst nach zwei Wochen nicht langweilig. Diese Altstadt ist fantastisc­h.

Ja, es könnte so entspannen­d sein in Sevilla. Stattdesse­n bekommen die Urlaubstag­e ein festes Gerüst. Vier Stunden Unterricht von 9 bis 13 Uhr, danach eine Stunde Konversati­on. Das macht zusammen fünf Stunden auf Spanisch. Und wer danach die Schule verlässt, dem schwirren die Sinne, weil es so viele neue Wörter waren. Danach die große Kathedrale anschauen? Vielleicht am Wochenende … Jetzt erst einmal einen Rotwein in einer Bar, bevor im Apartment weitergele­rnt wird. Nachmittag­ssonne und frische Luft, um alles zu verarbeite­n.

Denn Schule ist ja nie nur Lernstoff, Schule ist immer auch ein Schmelztie­gel des Menschlich­en – neue Mitschüler, neue Lehrer und damit neue Geschichte­n, die wiederum der Sprachunte­rricht in Rekordtemp­o zutage fördert. Denn alle in der Klasse sind Anfänger, das heißt, dass noch niemand die hohe Kunst des Sprechens versteht – nur das von sich preiszugeb­en, was man auch preisgeben möchte. Niemand in der Klasse ist ein Meister des Tarnens und Täuschens, alle sagen, wie es ist.

Was das heißt? Die Lehrerin María spricht in der Konversati­onsklasse über Häuser und Gärten. Neil – ein Spitzengit­arrist in einem großen Orchester in London – muss zwei-

erzählen, dass er die Gartenarbe­it liebe, denn sein Spanisch ist kaum vom Englischen zu unterschei­den. Danach will María von Peter wissen, ob er zu Hause auch einen Garten habe? Und Peter, nun ja, er kommt auch aus Deutschlan­d und ist speziell: Arbeitet in einem Landratsam­t, isst immer um fünf, macht sich alles in der Mikrowelle warm. Peter und ein Garten? Nein! Und Pflanzen? Ja, habe er – aber nur aus Plastik. Die Klasse lacht.

In diesem Klassenzim­mer, das zwei Wochen lang zur zweiten Heimat wird, öffnen sich ständig neue Ausblicke. Leone erzählt, dass er als Bäcker in Brasilien arbeitet. Tessa und Rivka haben ihr Studium gerade beendet, die beiden kommen aus Holland. Und dann gibt es da noch Cliff, der ausschaut, als sei er gerade 40 Jahre alt geworden. Er scheint die Rezeptur für diesen Trank der ewigen Jugend zu kennen. Seine Eltern kommen aus Jamaika, er ist in London aufgewachs­en, hat aber lan- in Hongkong gelebt und gearbeitet und spricht Kantonesis­ch. Was Cliff jetzt mache, möchte Moises, ein Lehrer, wissen? „Ich bin im Ruhestand.“Wie bitte? „Retired.“Wie bitte? Ja, Cliff sei in Rente, pensionier­t, arbeite nicht mehr. Und er sei auch nicht 40 Jahre alt, wie Moises meine, sondern 54 – und im Ruhestand. Unfassbar.

Das Gros der Sprachschü­ler ist jung. Viele kommen direkt nach ihrem Abitur und bleiben nicht nur zwei Wochen, sondern zwei Monate. Cliff ist in dem Wohnheim der Schule so etwas wie das Familienob­erhaupt. In der Klasse erzählt er Geschichte­n. Wie lange seine „Kinder“gestern wieder Party gefeiert haben; dass sie morgen alle zusammen mit den Fahrrädern einen Ausflug machen wollen. Bitte mitkommen!

Es ist erstaunlic­h, wie die Sprache Menschen, die im normalen Leben womöglich keine zwei Stunden miteinande­r aushalten würden, innermal

halb kürzester Zeit zusammenbr­ingt. Nach ein paar Tagen ist man Teil des Schultreib­ens, ohne selbst einen Platz im Wohnheim zu haben. Junge Schüler, ältere Schüler, das alles spielt keine große Rolle.

Wenn die Lehrer anfangen, ihre Geschichte­n zu erzählen, bekommen Sevilla, Andalusien und Spanien neue Facetten hinzugefüg­t. Begonia zum Beispiel ist es ein Herzensanl­iegen, dass die Franco-Diktatur nicht vergessen wird. Das versteht man auch als Sprachanfä­nger. Überall im Land werden immer noch neue Gruben gefunden, in denen Opfer der Diktatur verscharrt worden sind. Bei Granada zum Beispiel ist der Dichter Federico García Lorca 1936 ermordet worden – zusammen mit drei anderen. Bis heute weiß niemand, wo der Leichnam vergraben worden ist.

Moises erzählt, dass der Regen in dieser Sonnen- und Hitzestadt Sevilla zwar immer bitter nötig ist, von den Sevillanos immer als ein himmge lisches Unglück begriffen wird, das über den Menschen hereinbric­ht. Es gebe Kindergärt­en, in denen die Kinder nicht mehr draußen spielen dürfen („zu rutschig, der Boden“). Wenn Sevilla seine wichtigste­n Feiertage im Jahr mit den großen Prozession­en in der Karwoche begeht, wird gebangt, ob das Wetter hält. Die Büßer, die die großen Skulpturen aus den Kirchen zur Kathedrale und zurück tragen, haben sich ein Jahr lang vorbereite­t. Wenn es regnet, wird alles abgesagt, war alles umsonst – eine Katastroph­e.

Und Moises erklärt auch die feinen Unterschie­de zwischen Liebhaber und Liebhaber. Da gibt es ein Wort für den Lover für eine Nacht und ein anderes für den für drei bis fünf Nächte – und noch ein anderes für denjenigen, mit dem zwar nachts nichts läuft, mit dem man sich dafür aber versteht und unterhalte­n kann. Wow!

So verschiebt sich der Blick auf die Stadt und die Menschen langsam aber sicher. Als Sprachschü­ler muss man nicht das übliche Touristenp­rogramm absolviere­n. Es gibt ja eine Aufgabe, die Reise hat einen eigenen Sinn. Das ist jeden Morgen zu spüren, wenn es auf dem gleichen Weg zur Schule geht. Spätestens beim dritten Mal fallen nicht mehr die prachtvoll­en Häuser auf, sondern Nebensächl­ichkeiten, etwa der Chef des Installati­onsbetrieb­s, der immer grimmig vor dem Büro auf der Straße steht. Also gut, ihn mit Freundlich­keit zum Lächeln bringen, das ist das Projekt der nächsten Tage. Den ersten Gruß erwidert er mit einem Knurren, den nächsten einen Tag später auch noch. Danach schaut der Mann auf der Straße vor dem Büro immer geschickt weg.

Anstelle einer Burg-Besichtigu­ng geht es mit den Mitschüler­n auf Leihrädern hinaus aus der Stadt, immer entlang am Rio Guadalquiv­ir, dem Fluss, an dem Sevilla erbaut wurde. Zehn Sprachschü­ler unterhalte­n sich auf Spanisch, Englisch, Deutsch, Französisc­h, Holländisc­h, und wo die Vokabeln fehlen, setzt die Fantasie ein. Niemand weiß so recht, wohin die Ausfahrt gehen soll. Aber es tut gut, das Altstadtla­byrinth einmal in den zwei Wochen hinter sich zu lassen.

Diese Schafherde vor den Toren der Stadt schaut richtig idyllisch aus. Aber was machen die Hunde? Sie kommen zu fünft laut bellend angerannt, weichen nicht mehr von der Seite. Bellen. Bellen. Bellen. Halten keinen Abstand ein. Dazu kommt jetzt Schweiß am ganzen Körper. Wieso schlägt das Herz so schnell? Und warum macht der Schäfer nichts? Schon ist zu spüren, dass in einem eine gewaltige Sprachlück­e klafft. Denn all das, was man dem Schäfer gerade sehr lautstark sagen möchte, das war kein Thema im Unterricht in der Sprachschu­le. Das muss man dann doch im richtigen Leben lernen.

Die Kathedrale anschauen? Vielleicht am Wochenende Wird der Grimmige einmal in den zwei Wochen lächeln?

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 ?? Fotos: Enforex (2), Richard Mayr ?? Die Sprachschu­le „Enforex“in Sevilla ist in einem schönen Altstadtha­us in der Innenstadt untergebra­cht. Oben sieht man den Blick von der schuleigen­en Dachterras­se auf die riesige Kathedrale der Stadt.
Fotos: Enforex (2), Richard Mayr Die Sprachschu­le „Enforex“in Sevilla ist in einem schönen Altstadtha­us in der Innenstadt untergebra­cht. Oben sieht man den Blick von der schuleigen­en Dachterras­se auf die riesige Kathedrale der Stadt.
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