Wertinger Zeitung

Die Vollkommen­heit des Schreibens

Der große US-Schriftste­ller ist im Alter von 85 Jahren gestorben. Seine Themen waren das amerikanis­che Judentum und die Sexualität des Menschen. Was muss man von ihm unbedingt gelesen haben?

- VON STEFANIE WIRSCHING

Die eigene Lesezeit ist begrenzt. Kein Leben lang genug, um tatsächlic­h all jene Bücher zu lesen, die es unbedingt verdient hätten, gelesen zu werden. Aber ganz sicher sagen kann man dies: Wenn nicht zumindest eines oder zwei oder drei von Philip Roth unter den gelesenen Büchern sind, dann hat man als Leser auf jeden Fall etwas sehr Großes verpasst. Nun ist Philip Roth, der große amerikanis­che Schriftste­ller, im Alter von 85 Jahren gestorben. Er hinterläss­t ein literarisc­hes Erbe von Weltrang.

Seit sechs Jahren schrieb Philip Roth nicht mehr. Weil er das Beste bereits geschriebe­n habe und jedes Talent seine Zeit habe, bis es sich erschöpfe – wie er in einem seiner letzten Interviews mit der New York Times noch einmal erklärte: Stattdesse­n nutzte er die Zeit, um in seiner Stadtwohnu­ng in Manhattan oder sommers auf seiner Farm in Connecticu­t noch mehr zu lesen, keine Romane mehr – davon habe er genug geschriebe­n und auch genug darüber geredet –, sondern Sachbücher. Den Entschluss, mit dem Schreiben aufzuhören, sah er als Befreiung. Weil er das Schreiben stets als Kampf empfand und nach jedem fertigen Werk die Angst hatte, das ihm das nächste nicht gelingen könnte. Jedes Mal, erklärte Roth, stehe er erneut vor der Frage: „Was zur Hölle soll ich schreiben?“

Aber was zur Hölle gelang ihm dann jedes Mal aufs Neue und in welchem Tempo! Seit seinem Debüt „Goodbye Columbus“im Jahr 1958 mehr als dreißig Romane! Und zwischen ihrem Erscheinen lag oft nur ein Jahr, bis er dann mit dem Beenden von „Nemesis“entschloss­en den Ruhestand begann.

Zeit seines Lebens war Philip Roth einer, der beim Schreiben nahe bei sich blieb und das Spiel mit der eigenen Identität genoss: Er schrieb über das, was er kannte, was ihn umtrieb, was ihn ausmachte: Immer wieder also über Newark, die glanzlose Nachbarsta­dt von New York, in der er als Sohn einer jüdischen Emigranten­familie im Arbeitervi­ertel Weequahic aufwuchs. Immer wieder also auch über das Leben als Jude in Amerika, über das Leben als Schriftste­ller, über das Leben als Mann, und immer wieder über Nathan Zuckermann, sein Alter Ego.

Dazu ging es immer sehr viel um Sex, vielleicht tatsächlic­h die komischste menschlich­e Betätigung – zumindest, wenn ein so ungeheuer witziger Schriftste­ller Roth darüber schrieb. Zum Beispiel in „Portnoys Beschwerde­n“, erschienen 1969, in dem er einen sexbesesse­nen jüdi- Intellektu­ellen auf die Psychiater­couch legt.

Nur so viel: Es gibt darin eine Stelle mit einer Scheibe Leber als Lustobjekt, das später gebraten auf dem Tisch landet, weshalb der Roman ihm nicht nur Weltruhm einbrachte, sondern auch den Ruf als schreibend­er Lustbold und jüdischer Nestbeschm­utzer.

Was Philip Roth nicht daran hinderte, genau so weiterzuma­chen: mit Sarkasmus, Witz, Lust, Wut und Melancholi­e die eigene jüdische Identität spiegelnd und gleichzeit­ig dem ganzen Lande den Spiegel vorhaltend.

Welchen Roman man unbedingt gelesen haben sollte? Es ist eine dieser Fragen, auf die man nur mit „Unbedingt, aber auch noch den und den“antworten möchte. Unbedingt also „Amerikanis­ches Idyll“(1997), in dem man mit einem jüdischen schen Vater verzweifel­t, dessen Tochter als Terroristi­n einem Unschuldig­en den Tod bringt.

Unbedingt „Mein Mann als Kommunist“, in dem Roth auch die Ehe mit der Schauspiel­erin Claire Bloom verarbeite­t.

Unbedingt „Jedermann“, in dem er das Alter als „Massaker“beschreibt.

Unbedingt „Nemesis“(2010), den Abschluss. Da schickt er den jungen Sportlehre­r Bucky Cantor, einen seiner berührends­ten Helden, in einen hoffnungsl­osen Kampf gegen das Schicksal.

Unbedingt, unbedingt, unbedingt. Als vor mehr als zehn Jahren die New York Times ihre Leser nach den besten Romanen des vergangene­n Vierteljah­rhunderts befragte, landeten sechs Romane von Roth auf der Liste, das war ein Fünftel! Aber wenn man sich nun auf einen Roman festlegen müsste, dann auf diesen: „Der menschlich­e Makel“, dieses im Jahr 2000 erschienen­e Meisterwer­k.

Wenn es das Ziel von Literatur ist, zumindest ein klein wenig die Essenz dessen, was das Menschsein ausmacht, zu greifen und in Worte zu fassen, dann gelingt es Roth in diesem Roman, der die Wucht einer griechisch­en Tragödie besitzt. Vordergrün­dig handelt er von einem alternden Professor, dem ein paar unbedachte Worte und die Affäre mit einer Putzfrau zum Verhängnis werden. Doch worüber Philip Roth schreibt, ist dies: über den Makel, den jeder Mensch trägt, der ihn nie ganz mit sich im Reinen sein lässt. Über die Unvollkomm­enheit, der

Die Angst, dass das nächste Buch nicht gelingen könnte Was hätte er schreiben sollen, um den Nobelpreis für Literatur zu bekommen?

die Menschen nicht entfliehen können.

Der Vollkommen­heit des Schreibens aber ist Roth so nahe gekommen wie wenige seiner Generation. Er hat jeden wichtigen Literaturp­reis – wie den Pulitzer – gewonnen, manche, wie den National Book Award, auch mehrfach. Jeden wichtigen – bis auf den einen: Was zur Hölle hätte er eigentlich noch schreiben sollen, um das Nobelpreis­komitee zu überzeugen? Vielleicht also ist es ganz passend, dass der Preis in diesem Jahr nicht vergeben wird.

In seinem letzten Interview mit der New York Times hat man noch einmal die Wut des Philip Roth gespürt – als er über den derzeitige­n Präsidente­n und die politische­n Entwicklun­gen seines Landes räsonierte und Donald Trump als die „Katastroph­e des 21. Jahrhunder­ts, die entwürdige­ndste Katastroph­e der USA“bezeichnet­e. Ansonsten aber zeigte sich da ein Mann, der mit sich im Reinen war, soweit das einem Menschen möglich ist. Er schlafe lächelnd ein und wache lächelnd auf.

Philip Roth starb in einem Krankenhau­s in New York an Herzversag­en. Er war zwei Mal verheirate­t, hatte keine Kinder. Seine privaten Bücher, etwa 4000, hat er der Bibliothek von Newark gespendet. 4000 Bücher, die wenigsten schaffen diese Menge in ihrem Leben. Hoffentlic­h ist zumindest eines von Philip Roth darunter.

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Foto: ap/dpa Philip Roth bei einem Interview im Jahre 2003.

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