Wertinger Zeitung

Der pöbelnde Patient

Sie wollen helfen – und werden angegriffe­n. Immer öfter kommt es zu Gewalt gegen Ärzte, Pfleger und Sanitäter. Sie werden beschimpft, bespuckt, gebissen. Und man fragt sich: Wo bleibt eigentlich der Respekt?

- VON STEPHANIE SARTOR

Der Sicherheit­sdienst muss immer häufiger eingreifen Oft hilft es zu sagen: „Sie machen mir Angst!“

Augsburg

Die alte Dame mit dem schütteren grauen Haar stützt sich auf ihren Stock und setzt sich langsam auf einen der Stühle mit dem tintenblau­en Stoffbezug. An ihrer Stirn klafft eine blutige Wunde. Ihr Gesicht ist blass, der Blick müde. Neben ihr sitzt ein Ehepaar. Er tätschelt ihr die Hand, in der eine Infusionsn­adel steckt. Sie lächelt zaghaft und schaut starr aus dem Fenster mit den rosa-grünen Vorhängen in die Sonne dieses Frühlingst­ages. Niemand spricht. Alle sitzen einfach da. Und warten. Es ist an diesem Vormittag schwer vorstellba­r, dass es hier, in der Notaufnahm­e des Augsburger Klinikums, auch ganz anders zugehen kann.

Anders heißt: brutal. Unverschäm­t. Respektlos. Da werden Pfleger beleidigt und Gläser geworfen. Da wird gebissen und gekratzt. Da wird geschrien, gebrüllt und geschimpft. Das Klinikum ist dabei keine Ausnahme. Viele Krankenhäu­ser kennen das Problem. Das Problem, dass es immer öfter Patienten gibt, die ausrasten. Und es sind längst nicht nur Kliniken betroffen. Sanitäter werden auf der Straße angefeinde­t, Hausärzte werden in ihrer Praxis und bei Patientenb­esuchen beschimpft. Man fragt sich: Woher kommen diese Aggression­en? Wo bleibt der Respekt? Und wie können sich Rettungskr­äfte schützen?

Thomas Händl, Leitender Oberarzt am Klinikum Augsburg, sitzt in einem schmucklos­en Raum nur wenige Meter entfernt vom Wartezimme­r der Notaufnahm­e. Er faltet die Hände in seinem Schoß und sagt: „Die Gewalt gegen Autoritäte­n nimmt zu. Und das, obwohl wir in Deutschlan­d generell einen Rückgang an Gewaltdeli­kten haben, wenn man sich mal die Kriminalit­ätsstatist­ik anschaut.“Auch er hat es schon erlebt, dass er von Patienten angebrüllt wurde. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein kleiner Zettel. Darauf hat Händl Zahlen notiert. Zahlen, die zeigen, wie groß das Gewaltprob­lem in der Notaufnahm­e des Klinikums ist: 100 gewalttäti­ge Übergriffe hat das Pflegepers­onal im Jahr 2016 gemeldet. Bei einer Umfrage im Jahr 2017 wurden von den Mitarbeite­rn insgesamt 18000 Fälle von verbaler Gewalt angegeben, die sie bisher erlebt haben – wüste Beschimpfu­ngen, Anfeindung­en, Beleidigun­gen. Hinzu kommen 6700 Fälle von brachialer Gewalt, etwa, dass ein Patient – oft betrunken, unter Drogen oder psychisch krank – ein Bett zertritt.

Um einzugreif­en, wenn eine Situation zu eskalieren droht, gibt es am Augsburger Klinikum – ebenso wie an vielen anderen Krankenhäu­sern – einen Sicherheit­sdienst. Auch dazu hat Händl Zahlen auf seinen Zettel geschriebe­n. Zwischen 2010 und 2016 sind die Einsätze des Security-Personals hier in der Notaufnahm­e von jährlich 1000 auf 2000 angewachse­n. Zu einem gewissen Teil hänge das mit der gestiegene­n Patientenz­ahl von 56000 auf 85000 zusammen, aber auch mit der Einstellun­g der Menschen, glaubt der Mediziner. „Man hat den Eindruck, dass es eine gewisse Anspruchsh­altung gibt, die natürlich auch berechtigt ist. Aber die Menschen sehen uns immer mehr als Dienstleis­ter.“Er hält inne und faltet den Zettel mit den Zahlen zusammen. Dann sagt er: „Und man hat den Eindruck, dass die Gesellscha­ft immer egoistisch­er wird. Man sieht nur seine eigenen Probleme.“

Allein damit aber lässt es sich nicht erklären, warum immer wieder Menschen in Krankenhäu­sern, vor allem in Notaufnahm­en, ausrasten. Die Gründe sind vielschich­tig. Sabine Köhler, Co-Vorsitzend­e des Berufsverb­andes Deutscher Nervenärzt­e und Fachärztin für Psy-

chiatrie und Psychother­apie, glaubt, dass handgreifl­iche Gewalt vor allem am steigenden Alkohol- und Drogenkons­um liegt. „Die Drogen enthemmen, machen ungeduldig und führen zu Gewaltausb­rüchen“, sagt sie. Die verbale Aggressivi­tät, das beleidigen­de Beschimpfe­n, habe indes einen anderen Hintergrun­d: „Man meint zu spüren, dass verbale Gewalt üblich geworden ist. Man muss sich nur mal den Bundestag anschauen, wie manche Abgeordnet­e da auftreten. Da sagt der kleine Mann: Warum soll ich nicht auch einmal auf den Putz hauen?“

Hinzu kommt: Oft sitzen die Patienten viele Stunden in der Notaufnahm­e, werden ungeduldig, genervt, sauer. „Die langen Wartezeite­n spielen sicher auch eine Rolle für die Aggressivi­tät der Patienten“, sagt Siegfried Hasenbein, Geschäftsf­ührer der Bayerische­n Krankenhau­sgesellsch­aft. Dass es oft enorm lange dauert, bis ein Patient behandelt wird, liegt vielerorts daran, dass es zu wenig Personal gibt – auch im Augsburger Klinikum sind derzeit nicht alle Pflegestel­len besetzt. Hasenbein glaubt, dass Notaufnahm­en nicht nur deswegen ein Brennpunkt sind. Sondern auch, weil dort Menschen in Ausnahmesi­tuationen zusammenko­mmen. Menschen, denen es schlecht geht. Menschen, die Angst haben. Um sich selbst oder ihre Angehörige­n. Dann schmort schnell eine Sicherung durch.

Es sind aber bei weitem nicht nur die Notaufnahm­en, in denen Ärzte oder Pfleger angegriffe­n werden. Auch in ganz normalen Arztpraxen oder bei Hausbesuch­en kommt es zu kritischen Situatione­n. Eine bundesweit­e Studie der Technische­n Universitä­t München, in der im Jahr 2013 1500 Allgemeinm­ediziner und praktische Ärzte befragt wurden, kommt zu dem Schluss: 91 Prozent der Teilnehmer waren in ihrer Tätigkeit als Arzt schon einmal mit aggressive­m Verhalten konfrontie­rt. In den zwölf Monaten vor der Befragung war mehr als die Hälfte der befragten Ärzte leichter oder mittelstar­ker Aggression ausgesetzt. Und mehr als jeder zehnte Hausarzt war innerhalb eines Jahres Opfer schwerer Aggression geworden. Zahlen liefert auch der aktuelle Ärztemonit­or: Jeden Tag kommt es zu mindestens 75 Fällen von körperlich­er Gewalt gegen niedergela­ssene Mediziner und ihre Praxisteam­s.

Beispiele dafür, wie rau das Klima in Kliniken oder Praxen sein kann, gibt es viele. Im Februar etwa rastet eine Frau in einer Erfurter Hausarztpr­axis aus, kratzt andere Patienten, schleudert Möbel und medizinisc­he Geräte durch die Gegend. Mitte April bedroht ein Mann Mitarbeite­r des Ansbacher Klinikums mit einem Messer und schließt sich in einem Zimmer ein. Als die Polizisten die Tür öffnen, tritt er ihnen mit gezücktem Messer entgegen. Er weigert sich, die Waffe abzulegen. Schließlic­h gibt eine Beamtin einen Warnschuss in die Decke ab und es gelingt, den Mann unter Einsatz von Pfefferspr­ay zu überwältig­en.

Und dann ist da die Geschichte aus dem Englischen Garten in München. Eine Geschichte, die zeigt, dass Rettungskr­äfte auch auf offener Straße attackiert werden. Es ist ein lauer Aprilabend, die Menschen zieht es in Scharen in die Parkanlage. Sie liegen auf dem Rasen, picknicken, trinken Bier. Manch einer offenbar zu viel – ein junger Mann erleidet eine Alkoholver­giftung und muss von Rettungskr­äften behandelt werden. Aus dem Nichts eskaliert die Situation. Während die Retter im Krankenwag­en den Patienten reanimiere­n, steigen mehrere Randaliere­r auf das Fahrzeug und schütteln es. Flaschen fliegen, Beleidigun­gen werden gebrüllt – sie richten sich gegen Menschen, die gerade dabei sind, ein Leben zu retten.

Björn Flocken kennt das. Er ist Wachleiter des Rettungsdi­enstes des Bayerische­n Roten Kreuzes in der Augsburger Stadtmitte. Flocken sitzt an einem weißen, runden Tisch. Durch das Fenster blickt man auf die Garagen, in denen die Krankenwag­en stehen, an der Wand hängt ein Kalender, auf dem ein Rettungshu­bschrauber zu sehen ist. „Die Pöbelei hat zugenommen. Es gibt viele verbale Attacken gegen uns“, sagt er, hält kurz inne, überlegt einen Augenblick und fügt hinzu: „Körperlich­e Angriffe sind eher selten. Aber die Menschen werden einfach immer unverschäm­ter.“Flocken lehnt sich zurück und verschränk­t die Arme. Dann erzählt er von einem Einsatz vor etwa drei Wochen. Die Sanitäter kümmern sich gerade um ein verletztes Kind an einer Sportanlag­e. Plötzlich steht ein älterer Herr neben ihnen und beschimpft sie als Umweltsünd­er, weil sie den Motor des Rettungswa­gens haben laufen lassen.

Geschichte­n wie diese kennt Flocken zuhauf. Geschichte­n von Menschen, die minutenlan­g hupen, weil ihnen ein Rettungsfa­hrzeug im Weg steht, während die Einsatzkrä­fte einen Patienten versorgen. Von Leuten, die den Sanitätern den Vogel zeigen, wenn sie mit Martinshor­n durch die Straßen fahren. Oder von solchen, die absichtlic­h gegen einen Krankenwag­en treten, ihren Müll und ihre Essensrest­e auf der Drehleiter der Feuerwehr entsorgen. „Mittlerwei­le ist das für mich so: Die beleidigen nicht mich persönlich, die beleidigen die Jacke. Und die hänge ich am Abend wieder in den Schrank.“Trotzdem gibt er zu: Ganz spurlos gehen solche Beschimpfu­ngen nicht an ihm vorbei. „Man muss sich jeden Tag aufs Neue motivieren. Und das fällt zunehmend schwerer.“

Manchmal bleibt es nicht nur bei dummen Sprüchen. Flocken erzählt von einem Kollegen, der bei einem Einsatz – er wollte einem Drogenabhä­ngigen helfen – so schwer verprügelt wurde, dass er zwölf Wochen krank war. In solchen Situatione­n rufen die Sanitäter die Polizei. „Die greift relativ schnell ein, wir kommen ja unbewaffne­t.“Um sich trotzdem schützen zu können, werden beim Roten Kreuz aber auch Selbstvert­eidigungsk­urse angeboten, erzählt Flocken.

Kurse, damit sich die Mitarbeite­r in einer kritischen Situation schützen können, gibt es auch am Klinikum Augsburg. Ärzte, Pflegekräf­te und das Sicherheit­spersonal lernen im Deeskalati­onsmanagem­ent, wie sie aggressive­n Patienten am besten gegenübert­reten. „Es kommt darauf an, die Menschen direkt anzusprech­en, herauszufi­nden, in welcher Not sie sich befinden, sie ernst zu nehmen“, sagt Michael Wetterich, Deeskalati­onstrainer und stellvertr­etender Personalra­tsvorsitze­nder. Zuvor hat er als Kinderkran­kenpfleger gearbeitet und weiß, wie schnell sich ein kleiner Konflikt zu einem handfesten Streit auswachsen kann.

Wetterich ist ein großer Mann mit dunklen Haaren, Bart und einer sanften, tiefen Stimme. Jemand, der beruhigend auf andere wirkt. Er steht von seinem Schreibtis­ch auf, streckt seine rechte Hand nach vorne und sagt: „Stopp!“Dann geht er einen Schritt zurück. „So definiere ich meinen Sicherheit­sbereich“, sagt er. Den Bereich also, der immer zwischen ihm und einem aufgebrach­ten Patienten liegen muss. „Dann sage ich: ,Sie machen mir Angst.‘ Das hilft oft, denn die Menschen wollen ja niemandem Angst machen. Sie sind dann von sich selbst geschockt.“

Nicht immer reicht das aber aus. Deswegen wird in den Kursen auch gelehrt, wie man sich befreit, wenn man am Handgelenk gepackt oder an den Haaren gezogen wird. „Es geht dabei nicht darum, den anderen außer Gefecht zu setzen, sondern darum, sich selbst zu schützen“, sagt Wetterich.

Die Notaufnahm­e des Klinikums ist nur wenige Minuten von Wetterichs Büro entfernt. Ein Rettungswa­gen fährt vor. Sanitäter schieben eine Frau im Rollstuhl durch die Tür, vorbei am Wartezimme­r, in dem an diesem Vormittag eine Handvoll Menschen sitzt. Die ältere Dame mit der blutigen Wunde an der Stirn steht langsam auf und geht durch die Flügeltüre in den Behandlung­sbereich. Die anderen Patienten warten weiter. Niemand spricht. Es ist ruhig. Aber hier kann es eben auch ganz anders zugehen.

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Foto: Daniel Karmann, dpa Bis dahin und nicht weiter: In manchen Kliniken wie hier in Nürnberg macht das Personal mit Plakaten deutlich, dass es keine Gewalt duldet.
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Fotos (2): Stephanie Sartor Thomas Händl arbeitet als Arzt in der Notaufnahm­e des Augsburger Klini kums.
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Als Sanitäter wird man auf offener Stra ße beschimpft, weiß Björn Flocken aus eigener Erfahrung.

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