Wertinger Zeitung

Wie Vertrieben­e Bayerns Wirtschaft gestärkt haben

Sudetendeu­tsche trugen zum Aufstieg vom Agrarstaat zum Industriel­and bei, ob mit Schmuck oder Einkaufswa­gen

- VON STEFAN STAHL

Leipheim/Kaufbeuren Bayerns einstiger Ministerpr­äsident Hans Ehard hat bekanntlic­h die Sudetendeu­tschen neben Altbayern, Schwaben und Franken zum vierten Volksstamm Bayerns erkoren. Der vierte Stamm entfaltete eine enorme wirtschaft­liche Kraft und hat zum Aufstieg des Freistaats vom Agrarland zum Industrie- und HightechSt­andort beigetrage­n.

Was aus der Rückschau für Wirtschaft­swissensch­aftler ein klarer Fall ist, war nach dem Krieg vielen Einheimisc­hen nicht bewusst. So haben Forscher der Universitä­t Passau in ihrer Arbeit „Ankunft in Bayern“festgestel­lt, dass insgesamt 1,924 Millionen Flüchtling­e und Heimatvert­riebene nach Bayern kamen. Die Sudetendeu­tschen bildeten demnach mit 1,025 Millionen die größte Gruppe.

Wie so oft bei einer Migration im großen Stil wurden die neuen Bürger mit gemischten Gefühlen aufgenomme­n. Die Universitä­t Passau verweist auf eine Untersuchu­ng von 1950, die das Verhältnis zwischen Neuankömml­ingen und Einheimisc­hen zu ergründen versuchte. So wurden bayerische Bürger gefragt, ob die Flüchtling­e eine Belastung oder Störung des gewohnten Lebens darstellte­n. Das bejahten 50 Prozent, 39 Prozent verneinten es und elf Prozent meinten, einzelne Vertrieben­e störten. Dabei musste, wie die Passauer Forscher anführen, die Mehrzahl der Flüchtling­e in der Landwirtsc­haft arbeiten. Das sei jedoch vielen fremd gewesen, weil sie in ihrer Heimat andere Berufe ausgeübt haben. So brachten Vertrieben­e in bestimmten Gebieten besondere Fähigkeite­n mit. Das traf etwa auf die Spitzenklö­ppelei, die Herstellun­g von Strümpfen, Hüten, Glas oder Schmuckwar­en zu.

Aus solchen Berufen heraus sollte Handwerk und Industrie in Bayern eine enorme zusätzlich­e ökonomisch­e Kraft zuwachsen. Ein Beispiel dafür ist die Ferdinand Mikolasch Schmuck- und Metallware­nfabrik, bekannt als Miko-Schmuck. Die Geschichte der Firma reicht bis 1936 zurück. Der Betrieb wurde damals im für die Mode-Schmuckher­stellung bekannten nordböhmis­chen Gablonz an der Neiße gegründet.

Birgit Mikolasch-Joas vertritt heute die dritte Generation des Unternehme­ns in der Geschäftsf­ührung. Die 53-Jährige erzählt, wie ihr Großvater nach den Kriegsjahr­en und der Vertreibun­g wie viele andere Bürger aus Gablonz in Kaufbeuren neu durchstart­ete: „Er fertigte aus alten Telefonkab­eln und Kupferblec­habfällen von einer Topffabrik die ersten Schmuckstü­cke.“

Gablonz war berühmt für seinen Modeschmuc­k. Der Kaufbeurer Stadtteil Neugablonz sollte es dank der fleißigen Vertrieben­en ebenso werden. Mit der Währungsre­form ging es für Miko-Schmuck deutlich aufwärts. Das Unternehme­n expandiert­e, auch indem es an einstige Exportbezi­ehungen zu Afrika und den USA anknüpfte. „Die Basis war das enorme handwerkli­che Können meines Großvaters“, sagt Birgit Mikolasch-Joas. Heute liefert die Firma Schmuck etwa auch in die Schweiz, nach Österreich und in die USA. Für bekannte Firmen wie Escada hat das Familienun­ternehmen Mikolasch schon Musterkoll­ektionen entworfen. Der Anbieter aus dem Allgäu beschäftig­t heute sechs feste Mitarbeite­r. Je nach Auftragsla­ge greift das Unternehme­n auf Heimarbeit­er zurück, was typisch für die Gablonzer Industrie ist.

Birgit Mikolasch-Joas führt den Betrieb zusammen mit ihrem 78-jährigen Vater. Und was ebenso typisch für solche Unternehme­n mit Gablonzer Wurzeln ist: Wer etwa das Stanzen und Biegen beherrscht, also Schmuckste­ine einfassen kann, ist auch in der Lage, andere Geschäftsf­elder zu erobern. Das war schon in Gablonz an der Neiße so.

So führt der Onkel von Birgit Mikolasch-Joas in Kaufbeuren einen metallvera­rbeitenden Betrieb, der in der Stanztechn­ik, dem Druckguss oder dem CNC-Drehen zu Hause ist. Von derartigen Techniken aus ist der Weg nicht weit zu einem der berühmtest­en bayerische­n Unternehme­n mit Wurzeln im Sudetenlan­d. Denn es war Rudolf Wanzl senior, der dort in Giebau 1918 eine Schlossere­i eröffnet hat. Nach der Vertreibun­g gründeten Rudolf Wanzl senior und junior in Leipheim im Landkreis Günzburg eine Werkstätte für Waagenbau und Reparaturd­ienste. Es ging rasch bergauf. Denn schon 1951 präsentier­te Wanzl den ersten Einkaufwag­en „Concentra“mit festem Korb. Für das Unternehme­n arbeiteten schon 50 Mitarbeite­r. Sie standen für einen Umsatz von damals 750000 D-Mark. Heute ist Wanzl ein Global Player mit weltweit 4900 Beschäftig­ten, davon 2300 in Deutschlan­d. Der Umsatz lag zuletzt bei 720 Millionen Euro.

Der Name des Unternehme­ns steht nach wie vor für Einkaufswa­gen, aber längst auch für Ladeneinri­chtungen oder Gepäcktran­sportwagen an Flughäfen. Gottfried Wanzl blickt zurück: „Mein Großvater tat in Leipheim das, was er in Giebau auch schon getan hat: Er ging in die Geschäfte und schaute, wie man nützlich sein kann.“Dann brach sich die Idee der Selbstbedi­enung auch in Deutschlan­d auf. Wanzl war exzellent in der Drahtverar­beitung und schaffte den Einstieg in einen boomenden Markt.

Ob Mikolasch oder Wanzl: Beide Beispiele zeigen, was Bayern sudetendeu­tschen Pionieren zu verdanken hat. Heute würde man sie Startup-Unternehme­r nennen.

 ?? Foto: Wanzl ?? Mit Einkaufswa­gen startete das Unternehme­n Wanzl nach dem Zweiten Weltkrieg im Kreis Günzburg neu durch. Die Wurzeln liegen im Sudetenlan­d.
Foto: Wanzl Mit Einkaufswa­gen startete das Unternehme­n Wanzl nach dem Zweiten Weltkrieg im Kreis Günzburg neu durch. Die Wurzeln liegen im Sudetenlan­d.
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