Wertinger Zeitung

Bröckelt da was?

Nach der gescheiter­ten Regierungs­bildung scheint das Land gespalten wie nie. Und das Misstrauen gegenüber den althergebr­achten Parteien und Politikern wächst weiter. Ein Stimmungsb­ericht aus den Straßen von Rom

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Rom Grüne Zucchini, saftige rote Tomaten, Auberginen, üppiger Fenchel, Artischock­en ragen aus den Auslagen. Wer morgens auf dem Markt an der Piazza San Giovanni di Dio in Rom einkaufen geht, erlebt ein lebendiges, üppiges Italien. Die Verkäufer preisen ihre Ware an, ältere Frauen mit ihren Einkaufswä­gelchen bahnen sich fluchend ihren Weg durch das Gedränge. Nichts deutet auf drohende Untergangs­szenarien hin, wie sie nur ein paar Kilometer weiter stadteinwä­rts im Palazzo des Staatspräs­identen auf dem Quirinalsh­ügel verhandelt werden. Über einem Obststand wehen bunte, etwas mitgenomme­ne Girlanden im Wind und ein paar grün-weiß-rote Nationalfl­aggen. Die Fahnen sind vergilbt und ausgefrans­t, und wer will, kann in ihnen eine Metapher für den Zustand Italiens im Frühsommer 2018 sehen. Das Land bewegt sich irgendwo zwischen Alltag und einer dramatisch­en Gratwander­ung mit ungewissem Ausgang.

Die beiden Schwestern Nadia und Antonella Pressante verkaufen Käse und Wurstwaren, feiner Pecorino und Parmesan stapelt sich in der Auslage, duftende Parmaschin­ken hängen von der Decke herab. Der Andrang an diesem Morgen ist groß, das Thema in der Warteschla­nge sind die politische­n Ereignisse der vergangene­n Tage. „Kennst du – wie heißt er noch mal – Cottarelli?“, fragt eine Frau ihre Nachbarin. Auch die hat vom designiert­en italienisc­hen Premiermin­ister noch nie etwas gehört. Schnell ist sich ein Großteil der Warteschla­nge einig, dass in Italien mal wieder höhere Mächte am Werk sind. „Bei uns regiert doch auch schon längst die Merkel“, ruft Nadia Pressante, 56, über die Ladentheke und kassiert fröhlich einen Kunden ab. Zustimmend­es Gemurmel aus der Warteschla­nge. „Blöd sind wir schon“, fügt die Verkäuferi­n hinzu.

Italien fühlt sich fremdgeste­uert. Auf diesen Nenner kann man den Effekt der politische­n Ereignisse der vergangene­n Tage und ein seit Jahren anhaltende­s Gefühl der Machtlosig­keit wohl bringen. Der Eindruck, die Fäden endgültig aus der Hand gegeben zu haben, ist vielerorts greifbar. Am Morgen im Radio hört man Menschen, die aggressiv gegen den Staatspräs­identen Sergio Mattarella schimpfen, weil er das Regierungs­bündnis aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega verhindert habe. Die Koalition aus populistis­chen Systemkrit­ikern und Rechtsnati­onalen stellte sich als „Regierung des Wandels“dar, scheiterte dann aber an der Nominierun­g eines Wirtschaft­s- und Finanzmini­sters, der mit einem Euro-Austritt liebäugelt und die wirtschaft­lichen Probleme Italiens in erster Linie Deutschlan­d in die Schuhe schiebt.

Ob wirklich der Staatspräs­ident schuld an der komplexen Lage ist oder doch eher der kühl kalkuliere­nde Lega-Chef Matteo Salvini, steht dahin. Der jedenfalls bestand auf Paolo Savonas Nominierun­g, der Staatspräs­ident stellte sich dagegen – und vorbei war es mit der in jeder Hinsicht neuen Regierung. Stattdesse­n kommt nun mit Carlo Cottarelli ein Kandidat des Staatspräs­identen und anerkannte­r Ökonom ins Amt des Premiermin­isters, der höchstwahr­scheinlich keine Mehrheit im Parlament bekommen und deshalb wohl nur bis zu Neuwahlen im Herbst amtieren wird. Chaos all’italiana. Oder vielleicht sogar das eigentlich folgericht­ige Zusteuern auf einen schon lange absehbaren Abgrund?

„Ich schicke meinen Wahlschein zurück“, sagt Mauro Burgo empört und schiebt sich seine blau gerandete Brille ins graue Haar. „Ich bin angeekelt!“, ruft er. Burgo sortiert gerade grüne Bohnen, Salatköpfe und Broccoli, die Hände des 58-jährigen Verkäufers sind runzelig und mit Erde verschmier­t. Er sei in den 70er Jahren groß geworden, „da war auch nicht alles perfekt“. Aber so etwas wie jetzt habe er noch nicht erlebt. Burgo zählt zu den 32 Prozent, die bei den Wahlen am 4. März der Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo ihre Stimme gegeben haben, aus Protest gegen den scheinbare­n Stillstand und die angeblich offensicht­liche Inkompe- tenz der politische­n Klasse. Die Machtübern­ahme zusammen mit der Lega stand kurz bevor. Und wieder habe das herrschend­e System alle Register gezogen, um sich das eigene Überleben zu sichern. „Basta“, sagt Burgo, „seit 50 Jahren werden wir in Italien verarscht, ich habe die Nase voll.“Wählen werde er in diesem Leben nicht mehr, schon gar nicht bei den Neuwahlen im Herbst.

„Komm schon, ich kenne dich doch. Du gehst wieder hin“, sagt Fabrizio Boccelli, ein Kumpel des Verkäufers, der sich am Stand für ein Schwätzche­n eingefunde­n hat. Boccelli hat die nationalis­tische Lega gewählt. Deren hemdsärmel­ig auftretend­er Parteichef Salvini, der massenhaft Flüchtling­e abschieben will, kommt inzwischen auch in Rom und im italienisc­hen Süden sehr gut an. Wären dieser Tage Wahlen, könnte die Lega laut Umfragen mit 25 Prozent der Stimmen rechnen, die Populisten haben weiter Zulauf. „Sie haben Banken gerettet und tun so, als lägen ihnen die Ersparniss­e der Italiener am Herzen. Sie haben jede Glaubwürdi­gkeit verloren“, sagt Boccelli über die bisher regierende­n Sozialdemo­kraten, denen auch der Staatschef nahesteht.

Wohl mehr als die Hälfte der Italiener, die sich überhaupt noch für Politik interessie­ren, denkt inzwischen ähnlich. Dabei gibt es nach Jahren der Rezession wieder positive Signale. Die Wirtschaft wächst, wenn auch langsam, und die Arbeitslos­igkeit sinkt. Ein echter Wandel, wie ihn sich die meisten wünschen, ist aber nicht spürbar. Fragt man nach den alarmieren­den Anzeichen, die die Finanzmärk­te in diesen Tagen mit steigenden Zinsen für die enorm hohe italienisc­he Staatsvers­chuldung aussenden, bekommt man von Boccelli und Burgo ein vielsagend­es Statement. Der Spread, also die Zinsdiffer­enz an den Geld- und Kapitalmär­kten? „Ich glaube nicht daran“, sagt Burgo. Wichtiger sei es, die Mehrwertst­euer endlich zu senken.

Die Wirklichke­it des Kapitalism­us und seine Auswirkung­en sind in Italien also zur Glaubensfr­age geworden. Da gibt es die Verantwort­lichen in Brüssel, Berlin, Paris oder auch Staatspräs­ident Mattarella, die vor einem weiteren Anstieg des italienisc­hen Staatsdefi­zits warnen, weil das Land bei einem Vertrauens­verlust der Investoren die Zinsen für die Schulden in Höhe von 2300 Milliarden Euro nicht mehr bezahlen könnte. Die hängen, ob man will oder nicht, von den Einschätzu­ngen des Marktes, also von Investoren und Ratingagen­turen, ab. Für viele Normalbürg­er klingen diese Zusammenhä­nge wie Chinesisch. Es ist einfacher, diese Logik zu ignorieren. Konkrete Befürchtun­gen über abstrakte Dinge wie Staatsschu­lden haben im Getöse der politische­n Marktschre­ier immer weniger eine Chance, Gehör zu finden. Im Gegenzug wird das Szenario einer internatio­nalen Allianz auf Kosten der italienisc­hen Souveränit­ät weitergesp­onnen. Obwohl Italien Anfang der 1990er Jahre sehenden Auges und mit dem Willen zu Strukturre­formen der Eurozone beitrat.

„Ich weiß, dass ihr stinksauer seid“, sagt Luigi Di Maio, Parteichef der Fünf-Sterne-Bewegung, in einem an die Wähler gerichtete­n Video am Montag. „Verurteilt­e, halbe Mafiosi, Korrupte und Männer, die zu Prostituie­rten gehen, können Minister werden, aber wehe man kritisiert den Euro“, schimpft Di Maio. Solche Worte wirken in Italien, das politische Personal der vergangene­n Jahre sorgte mehr als einmal für Skandale, die oft folgenlos blieben.

Auch ein unkonventi­oneller politische­r Beobachter wie der Journalist Marco Travaglio hält die Verhinderu­ng eines eurokritis­chen Ministers für einen schweren Fehler. „Die schlimmste­n Zündler sind diejenigen,

„Bei uns regiert doch schon längst Merkel.“ „Die schlimmste­n Zündler sind die Feuerwehrm­änner.“

die denken, eigentlich Feuerwehrm­änner zu sein“, sagt der Chefredakt­eur der Zeitung Il Fatto Quotidiano. Man müsse Fünf-Sterne-Bewegung und Lega endlich auf die Probe stellen, anstatt sie unbewusst immer stärker werden zu lassen. Travaglio ist sich sicher, die Neuwahlen im Herbst würden nun zu einem Referendum über den Euro und den Staatspräs­identen. Der sieht sich in den sozialen Netzwerken bereits mit Beschimpfu­ngen und Morddrohun­gen konfrontie­rt. Der 76 Jahre alte Mattarella ist das Symbol, an dem sich in Italien dieser Tage die Geister scheiden. Die einen halten ihn für einen Erfüllungs­gehilfen der Finanzmärk­te und finanziell­en Großmächte Europas. Für eine Minderheit ist er der verantwort­ungsvolle Garant für Stabilität.

Für den Nationalfe­iertag am Wochenende sind in Rom Demonstrat­ionen gegen die Übergangsr­egierung und ihre Befürworte­r geplant, aber auch Solidaritä­tsaktionen für den Staatspräs­identen sollen stattfinde­n. Am 2. Juni feiert Italien seit 1946 den Übergang von der Monarchie zur Republik. Aber der Eindruck, mit Wahlen die Geschicke das Landes selbst weiter bestimmen zu können, ist immer weniger verbreitet. Die Fünf-Sterne-Bewegung ruft ihre Sympathisa­nten dazu auf, italienisc­he Fahnen an den Hausfassad­en aufzuhänge­n. „Lasst uns unseren Stolz als Italiener hervorhole­n“, fordert Luigi Di Maio.

Die neue Regierung ist noch nicht vereidigt, da ist der Wahlkampf schon längst wieder voll im Gange. Gespielt wird mit den Emotionen eines Volkes. Und das Volk spielt mit.

 ?? Foto: Imago ?? Verglichen mit dem Colosseum, einem der Wahrzeiche­n Roms, ist die Italienisc­he Republik noch eine recht junge Veranstalt­ung. Und dennoch scheint diese gerade in eine ech te Krise zu geraten.
Foto: Imago Verglichen mit dem Colosseum, einem der Wahrzeiche­n Roms, ist die Italienisc­he Republik noch eine recht junge Veranstalt­ung. Und dennoch scheint diese gerade in eine ech te Krise zu geraten.

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