Wertinger Zeitung

Angela allein in Europa

Eine gemeinsame Flüchtling­spolitik aller EU-Länder ist ein hehres Ziel. Die Realität sieht anders aus – auch wenn die Kanzlerin das nicht wahrhaben will

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Jean-Claude Juncker, der bekennende Europäer, hat in dieser Woche im Bayerische­n Landtag einen bemerkensw­erten Satz gesagt. Am Ende eines wortreiche­n Plädoyers für eine gemeinsame Flüchtling­spolitik klang der Präsident der EU-Kommission plötzlich wie Horst Seehofer und Markus Söder: „Man kann nicht ewig auf europäisch­e Lösungen warten.“

Angela Merkel sperrt sich noch gegen diese Einsicht. Stoisch verteidigt sie ihre Linie, nach der EUEuropa der Flüchtling­skrise nur in einem Kraftakt aller Mitgliedlä­nder Herr wird – als seien die Bindekräft­e in der Union noch um ein Vielfaches stärker als die Fliehkräft­e. In Wirklichke­it ist das Gegenteil der Fall: So loyal der Rest der EU der deutschen Kanzlerin durch die Eurokrise gefolgt ist, so isoliert steht sie zwei Wochen vor dem nächsten Gipfeltref­fen der Staats- und Regierungs­chefs da, in das sie all ihre Hoffnungen setzt.

Nicht nur ihr österreich­ischer Kollege Sebastian Kurz, der Ungar Viktor Orbán, die meisten anderen osteuropäi­schen Länder und die frisch vereidigte italienisc­he Regierung fordern einen deutlich restriktiv­eren Kurs im Umgang mit Flüchtling­en – auch der französisc­he Präsident Emmanuel Macron, gerne als neue europäisch­e Lichtgesta­lt gepriesen, agiert in der Asylpoliti­k nach dem Seehofer-Prinzip: Grenzen dicht! Alleine im vergangene­n Jahr hat Frankreich etwa 85 000 Flüchtling­e an der Einreise gehindert. Gleichzeit­ig driftet ein Land wie Spanien in die entgegenge­setzte Richtung ab. Kaum im Amt, hat der neue sozialisti­sche Innenminis­ter angekündig­t, den Stacheldra­ht an den Grenzanlag­en in den nordafrika­nischen Enklaven Ceuta und Melilla zu entfernen. Unter dem Schutz der Außengrenz­en stellt sich vermutlich auch Angela Merkel etwas anderes vor.

Eine Flüchtling­spolitik, die von allen Mitglieder­n gestaltet und getragen wird, ist vor diesem Hintergrun­d eine Schimäre, eine Illusion: Zu tief sind die Gräben, zu unterschie­dlich die Interessen in den einzelnen EU-Ländern. Wenn schon der Versuch, die vergleichs­weise überschaub­are Zahl von 160 000 Flüchtling­en aus dem überforder­ten Griechenla­nd mithilfe einer Quote halbwegs gerecht über Europa zu verteilen, scheitert: Wie soll dann eine große Lösung aussehen? Eine, bei der nach Angela Merkels Logik viele Staaten mehr Flüchtling­e aufnehmen müssten, als sie es bisher tun?

Die Kanzlerin verfolgt ein hehres Ziel, erinnert in ihrer Absage an jeden nationalen Alleingang und jede Form der Abschottun­g aber zunehmend an den glücklosen Don Quichotte und seinen Kampf gegen die Windmühlen. Solange die Europäisch­e Union nicht einmal in der Lage ist, ihre Grenzen nach außen zu kontrollie­ren, geschweige denn zu schützen, ist sich jeder selbst der Nächste. Die Briten haben sich mit dem Brexit sicherheit­shalber gleich ganz aus dem Spiel genommen – und nicht nur in Polen, in Ungarn, Tschechien oder der Slowakei stehen Asylbewerb­er buchstäbli­ch vor verschloss­enen Türen. Österreich­er und Dänen überlegen gerade, ob sie ein Land wie Albanien nicht dafür bezahlen sollen, dass es Auffanglag­er einrichtet und ihnen tausende von Flüchtling­en abnimmt. Europäisch­e Solidaritä­t, wie Angela Merkel sie buchstabie­rt, sieht anders aus.

Am Ende wird vermutlich umgekehrt ein Schuh daraus. Ehe sich Europa auf eine gemeinsame Asylpoliti­k verständig­en kann, müssen erst die Außengrenz­en sicher sein und die Spielregel­n für alle gleich und klar. Wer darf kommen – und wer nicht? Das auszuhande­ln allerdings ist keine Frage von Wochen oder Monaten, sondern vermutlich eine von Jahren. Horst Seehofer und Markus Söder werden darauf sicher nicht warten.

Selbst Macron handelt nach dem Seehofer-Prinzip

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