Wertinger Zeitung

Was ist übrig von Erhards Erbe?

Er gilt als Vater der Sozialen Marktwirts­chaft. Doch im Jahr ihres 70. Geburtstag­s scheint sie in der Krise zu stecken

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Berlin Wohlstand für alle. Das war der populäre Slogan von Ludwig Erhard. Noch heute gilt er als Wegbereite­r des „Wirtschaft­swunders“und als „Vater“der Sozialen Marktwirts­chaft. Sein Baby – wenn man im Bild bleibt – feiert nun seinen 70. Geburtstag. Und Erhard ist nach wie vor präsent im Wirtschaft­sministeri­um. Die Aula heißt „LudwigErha­rd-Saal“, in einer Ahnengaler­ie der Wirtschaft­sminister der Bundesrepu­blik ragt Erhard mit dem größten Bild heraus. Er wacht über die Arbeit seiner Nachfolger, damit sie nicht vom rechten Weg abkommen. „Erhard ist unerreicht“, sagt der aktuelle Minister Peter Altmaier (CDU) bei einem Festakt zur Feier der Sozialen Marktwirts­chaft. Gerade in Zeiten von Globalisie­rung und Digitalisi­erung mit historisch­en Umbrüchen beschwört die Politik die vertraute Formel und will die Soziale Marktwirts­chaft in eine neue Zeit führen. Doch wie genau?

Denn vielen Menschen ist nicht zum Feiern zumute. Berlin-Reinickend­orf, Auguste-Viktoria-Allee. Das hier sei ein „Problemkie­z“, sagt Ingrid Winterhage­r. Viele Hartz-IV Empfänger leben hier, viele Migranten. Vor der evangelisc­hen Segenskirc­he, einem roten Ziegelbau, laden Helfer der Berliner Tafel „Laib und Seele“einen Mietwagen aus. Er ist voll mit Obst und Gemüse, mit Brot, Wurst und Käse. Es sind Spenden von Supermärkt­en, Essen, das aussortier­t wurde. Vorm Seiteneing­ang warten bereits die ersten „Kunden“, wie sie genannt werden – Frauen und Männer, Familien mit Kindern. Einmal pro Woche können sie sich hier versorgen, für 1,50 Euro pro Haushalt.

Die Nachfrage sei in den vergangene­n Jahren gestiegen, sagt Gemeindepä­dagogin Winterhage­r, 61. „Für viele Leute, die zum ersten mal kommen, ist das eine Riesenüber­windung, manche haben Tränen in den Augen.“Michael Oberländer, 58, ist schwerbehi­ndert und muss mit nicht mal 400 Euro im Monat auskommen, wie er erzählt. Ohne Tafel wäre er aufgeschmi­ssen. „Die Politik lässt uns hängen.“Ein 54-jähriger Helfer der Tafel, der wie alle ehrenamtli­ch arbeitet, wird noch deutlicher: „Die oberen Zehntausen­d haben alles, die Mittelschi­cht geht kaputt, und wir haben den Rest.“

„Der Rest“– das ist ein ziemlich hartes Wort. Aber genau so fühlen sich wohl viele, die Hartz IV beziehen. Sie sehen keine Perspektiv­e mehr. Und die Angst vor der Zukunft scheint sich in die Mittelschi­cht zu fressen. In Großstädte­n finden viele keine bezahlbare Wohnung mehr, viele haben wegen des digitalen Wandels Sorgen vor dem Jobverlust. Dabei geht die deutsche Wirtschaft ins neunte Wachstumsj­ahr. Die Arbeitslos­igkeit ist gesunken, die Einkommen steigen schneller als die Inflation.

Aber kommt der Aufschwung bei allen an? „Wenn man sich Deutschlan­d im Jahr 2018 anschaut, dann stellt man fest, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft und dass der soziale Sprengstof­f zunimmt“, sagt der Politikwis­senschaftl­er und Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e. Der 67-Jährige zählt aus seiner Sicht die „Sünden“der Vergangenh­eit auf: Deregulier­ung des Arbeitsmar­ktes, Agenda 2010 und Hartz-Gesetze, Lockerung des Kündigungs­schutzes. Mini-Jobs und ein breiter Niedrigloh­n- sektor. Und auf der anderen Seite seien Kapital- und Gewinnsteu­ern entweder abgeschaff­t oder gesenkt worden. „Soziale Marktwirts­chaft heißt für mich, dass alle am Wirtschaft­sprozess Beteiligte­n auch an den Erträgen beteiligt werden.“Die Soziale Marktwirts­chaft dürfe kein „Kosename“für einen neoliberal­en Finanzmark­tkapitalis­mus sein.

„Die zentralen Verspreche­n der Soziale Marktwirts­chaft waren, soziale Sicherheit zu bieten und dafür zu sorgen, dass es eine Gleichheit gibt“, sagt Ulrich Schneider, Hauptgesch­äftsführer des Paritätisc­hen Gesamtverb­ands. „Das heißt, dass die Gesellscha­ft nicht auseinande­rfällt, dass alle mitgenomme­n werden, egal wie schwach sie sind. Wenn man sich aber die Entwicklun­g anschaut, muss man feststelle­n, dass dieses Verspreche­n, spätestens seit der Jahrtausen­dwende nicht mehr eingehalte­n wird.“

Diese Generalkri­tik teilt Michael Hüther nicht. „Es stimmt nicht, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich fortlaufen­d vergrößert hat und die Mittelschi­cht anhaltend schrumpft“, sagt der Chef des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Die Soziale Marktwirts­chaft sei in einem höchst erstaunlic­hen Maße sozial. „Wir haben eine Erwerbsbet­eiligung der 25bis 64-Jährigen von 80 Prozent – so hoch wie noch nie. Das ist das eigentlich­e Leistungsv­ersprechen der Sozialen Marktwirts­chaft. Außerdem sind die Reallöhne in den vergangene­n Jahren gestiegen, die Einkommen sind mehr als stabil.“

Doch auch Hüther sieht Handlungsb­edarf – in der Integratio­n von Langzeitar­beitslosen, in der Pflege oder bei den Lebensbedi­ngungen von Alleinerzi­ehenden. In einer Phase von Globalisie­rung und Digitalisi­erung mit wachsender Konkurrenz aus China und Handelskon­flikten mit den USA stelle sich die Frage: „Wie kann eine sozial verpflicht­ete Wirtschaft­sordnung dauerhaft in dieser Globalisie­rung funktionie­ren?“

Ein Wort, das immer häufiger zu hören ist, heißt „disruptiv“. Es meint: Die digitale Revolution hat in einer globalisie­rten Welt das Zeug, ganze Branchen radikal zu verändern – und das schnell. In der „Industrie 4.0“übernehmen immer mehr Roboter Arbeiten. Vielen Menschen macht das Angst.

„Die Globalisie­rung hat zu mehr Wohlstand geführt. Aber natürlich ist das jenen Menschen schwer vermittelb­ar, die Angst um ihren Arbeitspla­tz haben“, sagt Dieter Kempf, Präsident des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie. „Die Wirtschaft hat eine gesellscha­ftliche Verantwort­ung.“Die Soziale Marktwirts­chaft von Ludwig Erhard müsse modernisie­rt werde. „Die Wirtschaft muss deutlicher machen, welche gesamtgese­llschaftli­chen Auswirkung­en wirtschaft­liches Handeln hat.“

Auch die Koalition will gegensteue­rn – auch aus Sorge, weitere Wähler an die rechtspopu­listische AfD zu verlieren. Im Bundestags­wahlkampf seien viele Sorgen und Zukunftsän­gste der Menschen nicht ernst genug genommen, so die Analysen in den Parteizent­ralen. „Die Digitalisi­erung verändert die Spielregel­n des Kapitalism­us“, sagte SPD-Chef Andrea Nahles jüngst. „Mit den Regeln der Sozialen Marktwirts­chaft haben wir dafür gesorgt, dass der Wohlstands­gewinn allen zu Gute kam, dass die großen Lebensrisi­ken abgesicher­t waren, und dass Aufstieg durch Bildung unabhängig von Geschlecht, Klasse oder Herkunft möglich war. Dieses Modell ist in der Krise.“Der „digitale Kapitalism­us“brauche neue Regeln, damit der technische Fortschrit­t wieder den Menschen zu Gute komme.

Es könnte ein langer und schwierige­r Weg werden. Bei der Berliner Tafel jedenfalls sei noch kein Politiker aufgetauch­t, sagt Winterhage­r: „Wir sind ein Sozialstaa­t, jeder wird mit dem Nötigsten versorgt. Aber ich bin traurig, dass die Tafel notwendig ist.“Andreas Hoenig, dpa

 ?? Foto: dpa ?? Ludwig Erhard hat in der Nachkriegs­zeit nicht nur das Wirtschaft­swunder mitangesto­ßen, der CDU Politiker gilt auch als Vater der Sozialen Marktwirts­chaft. Die braucht es heute nötiger denn je, damit sich die Menschen nicht abgehängt fühlen.
Foto: dpa Ludwig Erhard hat in der Nachkriegs­zeit nicht nur das Wirtschaft­swunder mitangesto­ßen, der CDU Politiker gilt auch als Vater der Sozialen Marktwirts­chaft. Die braucht es heute nötiger denn je, damit sich die Menschen nicht abgehängt fühlen.

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