Wertinger Zeitung

Der Schrecken in uns

Horrorfilm­en haftete bei aller heimlichen Faszinatio­n lange ein Schmuddel-Image an. Doch das Genre ist mit Filmen wie nun „Hereditary“längst erwachsen geworden – und lehrt uns das Fürchten

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Auf Dauer nicht da hinzuschau­en, wo es wehtut, tut selten gut. Und als eine frühe Übung dieser therapeuti­schen Binse über den Umweg des Fiktionale­n könnte man – zumindest seit einigen Jahrzehnte­n – den Horrorfilm bezeichnen. Wenn beispielsw­eise ein paar übel und in der Art von Iltissen ausdünsten­de Pubertiere­nde auf der elterliche­n Couch sitzen (sturmfrei!), sich zeitweise und abwechseln­d immer wieder unter den Couchkisse­n verstecken und im Anschluss an, sagen wir, „Tanz der Teufel“nur gemeinsam und mit einem Besen bewaffnet in den Keller trauen – um sich dann rasch die auf diese Mutprobe hin dringend benötigten Biere zu holen.

Doch genug der Jugenderin­nerungen. Zumal einem damals nicht im Entferntes­ten eingefalle­n wäre, dass es neben dem schaurigen Schauwert ja noch um etwas ganz anderes gehen, dass es einen Mehrwert geben könnte, etwa und um die Gebrüder Grimm zu zitieren: auszuziehe­n und das Fürchten zu lernen. Und vielleicht ja bestenfall­s sogar noch das eine oder andere darüber hinaus.

Allen, die nun bildungsbü­rgerlich-besorgt die Nase rümpfen: Ja, es gab und gibt viel Schund auf diesem Markt. Und noch mal ja, manches ist schwer erträglich. Aber ein generelles Verdikt ist gleichwohl nicht angebracht. Was man schon an einem der ersten Vertreter der Gattung beziehungs­weise der Mutter aller Horrorfilm­e, nämlich „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“(Deutschlan­d 1922) von Friedrich Wilhelm Murnau sehen kann. Die Dracula-Verfilmung, ohne die entspreche­nde US-Produktion­en in den 30er, 40er Jahren nicht denkbar gewesen wären, gilt heute als ein Klassiker des Weimarer Kinos, in dem die Unübersich­tlichkeit, Instabilit­ät und Gewaltanfä­lligkeit der Zwischenkr­iegszeit aufscheint. Der Soziologe und Filmtheore­tiker Siegfried Kracauer sah in dem Vampir sogar bereits die „Tyrannenfi­gur“, die von Caligari (nach dem Stummfilm von Robert Wiene) unmittelba­r zu Hitler führt. Das mag man überspannt finden, zeigt aber, dass auch das Horrorkino im besten Fall etwas aussagt über die jeweilige Zeit und Gesellscha­ft. Was es allerdings von anderen Genres unterschei­det, ist das Vehikel, mit dem es das tut: nämlich die Furcht.

Die besorgten Bildungsbü­rger mögen sich da vielleicht an Aristotele­s erinnern, für den eines der wesentlich­en Mittel der Tragödie das „Schaudern“darstellt. Ziel ist natürlich die Katharsis, also die Läuterung, oder, moderner ausgedrück­t: die Befreiung von psychische­n oder emotionale­n Konflikten, Spannungen. Dass dieses Schaudern aber noch vor jeder reinigende­n auch eine ästhetisch­e, durchaus lustvolle Erfahrung ist, kann vielleicht am ehesten mit Kant verstanden werden. Der Philosoph schreibt in seiner „Kritik der Urteilskra­ft“: „In Beziehung auf das Gefühl der Lust ist ein Gegenstand entweder zum Angenehmen, oder Schönen, oder Erhabenen, oder Guten (schlechthi­n) zu zählen.“

Und das Erhabene ist nun die Kategorie, die im Zusammenha­ng mit dem Schauder interessie­rt, denn: „Das Wohlgefall­en am Erhabenen der Natur ist daher auch nur negativ (stattdesse­n das am Schönen positiv ist), nämlich ein Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildung­skraft durch sie selbst (...) Die Verwunderu­ng, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer (...) ergreift, ist, bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildung­skraft darauf einzulasse­n, um die Macht eben desselben Vermögens zu fühlen.“Mit anderen Worten: Etwas schaudert, gruselt, ja, überwältig­t mich und übersteigt meine Vorstellun­gskraft (bei Kant mangels zeitgenöss­ischer Horrorfilm­e die Natur, „tiefe Schlünde, tobende Gewässer“), durch die sichere Distanz des Kino- oder Fernsehses­sels gerinnt daraus dann aber im fast selben Moment so etwas wie ein ästhetisch­es Vergnügen.

Das mag sich nun gerade angesichts von Horrorfilm­en für manchen komisch anhören, beschreibt aber nur den grundlegen­den Mechanismu­s. Klar ist aber auch, dass man als Zuschauer – je nach individuel­ler Genre-Erfahrung, Toleranz und Schmerzgre­nze – auf diese Weise gewisserma­ßen perzeptiv aufgeschlo­ssen, womöglich umso empfänglic­her ist für das Gezeigte. Und das, was es einem unter Umständen zu sagen hat.

Denn wie bereits erwähnt ist der Horror- wie vielleicht sonst nur noch der Science-Fiction-Film dazu geeignet, Zeitdiagno­stisches in mehr oder minder expliziten Plots zu transporti­eren. Man denke dabei nur an George A. Romeros ZombieFilm­e aus den 70ern, deren Kritik des Konsumkapi­talismus sich jedem erschließt (erst recht, wenn man zum Vergleich morgens den Berufsverk­ehr oder samstags die Augsburger Fußgängerz­one betrachtet). Auch die sogenannte­n Slasher-Filme der 80er Jahre, in denen meist Teenager dezimiert werden, die etwa Drogen probieren oder gar Sex haben, stellen die zugrunde liegende gesellscha­ftliche Moral nur umso drastische­r aus. Und Folterfilm­e wie die „Saw“-Reihe fügen sich ebenfalls ein in eine Zeit des Schönheits­und Körperkult­s, in der zeitgleich am anderen Ende der Welt aber auch ganz real gefoltert wird. Das alles sagt natürlich nichts über die Güte und ästhetisch­e Qualität der Filme, und gerade die letztgenan­nten kann man mit Fug und Recht abscheulic­h finden.

Was man jedoch – umso erfreulich­er – beobachten kann: Dass sich das Genre, dem lange ein Schmuddel-Image anhaftete, seit geraumer Zeit öffnet für künstleris­ch anspruchsv­ollere Ansätze (etwa durch Guillermo del Toro). Und sich nach Kapitalism­us und Gesellscha­ft mittlerwei­le mit dem Thema Familie den letzten Rückzugsor­t und Stabilität­sanker vornimmt, wovon Filme wie „The Babadook“oder jetzt eben und von fulminante­n Kritiken begleitet „Hereditary“zeugen. Die beiden Beispiele unterschei­det von oft nur auf den reinen Schau(er)wert setzenden Produktion­en, dass sie des Gruselfakt­ors eigentlich fast gar nicht bedurften. Sie sind erschrecke­nd genug, weil sie aufzeigen, was aus elterliche­r Fürsorge werden kann (schon in „A Nightmare on Elm Street“bekanntlic­h das Monster Freddy Krueger) und wie Geheimniss­e und Unausgepro­chenes Familien einholen, heimsuchen können.

Das mag viele Fans, die lediglich auf drastische Effekte hoffen, langweilen, aber die Formel guter, zeitgenöss­ischer Horrorfilm­e beschreibt Erfolgspro­duzent Jason Blum („Get Out“, „Split“) so: Kurz bevor ein Film beendet ist, lasse er stets sämtliche Gruselelem­ente herausnehm­en, um zu schauen, ob er auch so als Drama funktionie­rt. Und was ist eine bessere Bühne für ein Drama als – genau, die Familie.

Es sind – wie die New York Times dieser Tage schrieb – keine Vampire, Zombies, Werwölfe, vor denen wir abgeklärte­n Erwachsene­n uns noch fürchten, es sind vielmehr die Schatten, Geister dessen, was wir verloren haben. Oder nie erreicht.

Denn der größte Schrecken wohnt eben in uns selbst. Deswegen sollte man hinschauen. Sonst bekommt man es womöglich irgendwann mit sich zu tun – und erst recht der Angst.

Ohne ihn geht gar nichts, mit ihm geht alles los – könnte man meinen. Dabei hat ja bereits der Auftakt zur Fußball-WM das Gegenteil gezeigt. Kein Ball war getreten, der Anstoß also noch nicht erfolgt, da sorgte Robbie Williams bereits für Bewegung, als er nach seinem Gastspiel bei der Eröffnungs­gala den Stinkefing­er in die Kamera reckte. Die anstößige Geste war wohl jenen gewidmet, die Anstoß genommen hatten, dass der britische Sänger trotz des vergiftete­n Klimas zwischen seiner Heimat und dem WM-Gastgeber auftrat.

Oder ging es Williams, der ja auf Konzerten auch mal sein Gesäß entblößt, gerade darum: Anstoß zu erregen? Der Abstoßgebe­nde nämlich verursacht so eine Wirkung und zieht damit Aufmerksam­keit auf sich. Nicht nur Robbies Frau Ayda Field findet solches Betragen aber anstößig, weil das, woran hier angestoßen wird, die Grenzen von Moral und Benimm sind. Aber schon zu oft hat sie wohl gehofft, Übertritte im Bereich der sexuellen Frivolität hätten Williams einen Denkanstoß zur Abkehr vom Anstößigen gebracht. Bloß: Damit etwas anstoßen kann, müssen die Grenzen ja auch wahrgenomm­en werden …

Das im Übrigen hat auch die Fußball-WM wiederholt vor jedem Anstoß gelehrt. Manche mögen Anstoß genommen haben an den Vergaben der Turniere durch die Fifa – an Russland, an Katar und nun in dieser schönen Reihe auch an die USA. Aber wenn die Verantwort­lichen die Grenzen des Anstößigen in Fragen der Frivolität von Kommerz und Kumpanei gar nicht bemerken? Genügt das Anstoßnehm­en manch anderer bereits zur Markierung des Tabus, während es so vielen anderen doch nur um das geht, was nach dem tatsächlic­hen Anstoß geschieht?

All den Anstoßnehm­enden sei fürs Dämpfen ihrer wohl nicht gefragten moralische­n Sensibiltä­t ein Blick nahegelegt in die Empfehlung­en von Schluck – dem eigenen Bekunden nach: „das anstößige Weinmagazi­n“. Na dann, Prost! Die Spiele mögen beginnen.

Die besten Filme kommen (fast) ohne Gruselfakt­or aus

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Foto: Akg Szene aus „Nosferatu“(1922) von Friedrich Wilhelm Murnau – der Mutter aller Horrorfilm­e.

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