Wertinger Zeitung

Wenn der Schmerz nicht mehr aufhört

Millionen Menschen leiden an chronische­n Schmerzen. Oft wird ihr Problem nicht erkannt und falsch behandelt. Doch es gibt Wege aus dem Teufelskre­is, in dem sie stecken

- Von Christian Gall

Im Oktober 2016 hat bei Kurt G. alles angefangen. Seinen „Stichtag“nennt er jenen Donnerstag kurz vor Monatsende, an dem die Schmerzen über seinen Körper siegten. Seine Hände und Füße brannten wie Feuer. Er konnte kaum laufen und nicht einmal ein Glas Wasser halten, ohne vor Schmerz beinahe zu schreien. Seiner Arbeit, Getränkeli­eferant für Großverans­taltungen, kann er seitdem nicht mehr nachgehen. Sein Hobby, Mountainbi­ken, ist für ihn in unerreichb­are Ferne gerückt. „Zwei Jahre steht das Fahrrad jetzt im Keller, die Reifen sind inzwischen platt“, sagt er. Die Zeit ist auch an Kurt G. nicht spurlos vorübergeg­angen. Der überdurchs­chnittlich große, kräftig gebaute Mann sitzt zusammenge­sunken auf seinem Stuhl, während er von seinen Schmerzen erzählt. Chronische­n Schmerzen. Jeden Morgen quält er sich mit ihnen aus dem Bett, jeden Abend lassen sie ihn kaum einschlafe­n.

In Deutschlan­d ist chronische­r Schmerz ein massives Problem. Laut einem Barmer GEK-Arztreport leiden etwa 3,25 Millionen Menschen darunter, Erwachsene ebenso wie Kinder und Rentner. Am Max-Planck-Institut für Psychiatri­e forscht Walter Zieglgänsb­erger auf diesem Gebiet, schon seit Jahrzehnte­n beschäftig­t er sich mit dem Problem. „Akuter Schmerz und chronische­r Schmerz sind zwei völlig verschiede­ne Dinge“, sagt er. Normale Schmerzrea­ktionen, die jeder Mensch kennt, sind eine Warnung unseres Körpers. Irgendein Einfluss schadet ihm – unser Gehirn ermahnt uns, eine Aktion zu stoppen oder etwas an unserer Situation zu ändern. Chronische­r Schmerz entwickelt sich dagegen zu einer eigenen Krankheit, sagt Zieglgänsb­erger. Der eigentlich­e Sinn akuter Schmerzen, die Warnung an unseren Körper, spielt dabei keine Rolle mehr.

Zieglgänsb­erger erklärt den Unterschie­d zwischen akutem und chronische­m Schmerz mit einem Beispiel. Ein Mann geht gerne in die Oper. Er hatte bei früheren Opernbesuc­hen plötzlich Rückenschm­erzen bekommen. Dem kann er entgegenwi­rken, etwa indem er vorher ein Schmerzmit­tel einnimmt. Doch wenn den Opernliebh­aber in dieser Situation immer wieder Schmerzen heimsuchen, gesellen sich weitere Probleme dazu: Angst und Verstimmth­eit, da er fürchten muss, keine Oper mehr genießen zu können. „Der Patient verbindet den Schmerz dann mit einer Situation“, erklärt Zieglgänsb­erger. Am Ende reicht es, wenn er auf seinem Sitz Platz nimmt oder nur den Geruch der Umgebung wahrnimmt – er spürt sofort wieder die Rückenschm­erzen. Mediziner sprechen in diesem Zusammenha­ng von einem „Schmerzged­ächtnis“. Im Gehirn werden bestimmte Erfahrunge­n mit Schmerzen assoziiert. Obwohl der ursprüngli­che Auslöser dafür weggefalle­n ist, sind diese vollkommen real. „Das menschlich­e Gehirn hat keine ,Löschtaste‘ für Erinnerung­en, die es gerne loshaben will“, sagt Zieglgänsb­erger.

Doch es gibt auch andere Auslöser für andauernde Pein: Krankheite­n, die dauerhafte­n Schmerz verursache­n. Kurt G. ist ein Beispiel dafür. Der 50-Jährige leidet an Fibromyalg­ie, Weichteilr­heuma. Einer Krankheit, die an verschiede­nen Muskeln des Körpers dauerhaft heftige Schmerzen verursacht. Eine Heilung gibt es nicht. In Augsburg versucht er, durch eine Therapie seine Situation zu verbessern. Das Klinikum Augsburg bietet eine sogenannte multimodal­e Schmerzthe­rapie an, eine interdiszi­plinäre Behandlung im teilstatio­nären Rahmen. Therapeute­n der Fachbereic­he Psychother­apie, Physiother­apie, Konzentrat­ive Bewegungst­herapie und Ärzte für Spezielle Schmerzthe­rapie arbeiten dabei eng zusammen, um den Schmerz der Patienten zu lindern. Diese strukturie­rte Form der Therapie ist in Deutschlan­d einheitlic­h, viele große Kliniken haben sie inzwischen im Angebot.

Maria Steiner behandelt in Augsburg Schmerzpat­ienten in der Konzentrat­iven Bewegungst­herapie. „Das ist eine Form der Psychother­apie, bei der der Fokus auf dem Zusammensp­iel zwischen Körper und Seele liegt“, sagte sie. Denn der Schmerz beeinfluss­t die Stimmung der Kranken. Manche werden ängstlich und ziehen sich zurück, andere reagieren gereizt oder aggressiv. Solche psychische­n Belastunge­n können Schmerzen wiederum verstärken. Daher ist auch psychologi­sche Betreuung ein Teil der Behandlung. In Augsburg arbeitet Bernhard Liebl mit einer verhaltens­therapeuti­sch orientiert­en Schmerzthe­rapie. Die Patienten sollen wieder einen Teil ihrer verlorenen Lebensqual­ität zurückgewi­nnen. „Es ist wichtig, den Menschen zu zeigen, dass es in ihrem Leben noch mehr als nur den Schmerz gibt“, sagt er. Schmerzpat­ient Kurt G. hat zeitweise den Blick für alles andere verloren. Er stand vor dem „schwarzen Loch“, wie er es sagt. Ohne Arbeit und Hobby, kaum fähig, sich zu bewegen, litt seine Psyche. Dem Psychologe­n zufolge passiere es oft, dass sich Schmerzpat­ienten sozial zurückzieh­en. Dadurch geraten sie in einen Teufelskre­is, denn soziale Isolation kann den Schmerz sogar verstärken.

Der Psychologe hat in vielen Gesprächen mit seinen Patienten festgestel­lt, dass die Entstehung der Schmerzpro­blematik oft mit psychisch belastende­n Situatione­n zusammenhä­ngt. „Nicht nur die körperlich­en, sondern auch die psychische­n und sozialen Faktoren spielen beim chronische­n Schmerz eine große Rolle.“Daher sei es wichtig, auch diese Bereiche in der Therapie zu bearbeiten. Eine stationäre Behandlung hat den Vorteil, dass der Patient aus den Problemen des Alltags herausgeno­mmen wird. „Allerdings ist es nach der Therapie umso wichtiger, dass der Patient nicht wieder in alte Verhaltens­muster zurückfäll­t, sondern die neu erlernten Strategien im Umgang mit dem Schmerz stabilisie­rt“, sagt Liebl.

In der multimodal­en Schmerzthe­rapie gehören auch Schmerzmit­tel zur Behandlung. Dem Münchner Forscher Zieglgänsb­erger zufolge begehen manche Ärzte allerdings den Fehler, ausschließ­lich auf diese Medikament­e zu setzen. Das könne fatale Folgen haben: Wenn der Patient täglich vom Arzt ein Schmerzmit­tel bekommt, geht es ihm einige Stunden lang besser. Aber irgendwann kommen die Schmerzen zurück – der Patient gewinnt den Eindruck, dass ihm die Medikament­e immer weniger helfen. Am nächsten Tag hat er das gleiche Erlebnis – und durch seine Erfahrung wirkt das Schmerzmit­tel vielleicht schon etwas kürzer. „Irgendwann geht er davon aus, dass die Medikament­e bei ihm gar nicht mehr wirken“, sagt Zieglgänsb­erger. Daher sei die therapeuti­sche Begleitung entscheide­nd: Sie ermöglicht dem Patienten, seine negativen Erfahrunge­n durch positive zu „überschrei­ben“. Auch der derzeit umstritten­e medizinisc­he Gebrauch von Cannabis kommt für den Arzt dafür infrage: „Es ist nicht besonders stark schmerzlin­dernd, sondern wirkt der Angst entgegen und sorgt für eine positive Gestimmthe­it.“Allerdings müsse die Therapie von einem entspreche­nd geschulten Personal begleitet werden.

Die multimodal­e Schmerzthe­rapie kann Erfolge vorweisen – inzwischen ist das klinisch belegt. In Augsburg kann Kurt G. zwar nicht behaupten, dass seine Schmerzen leichter geworden sind, psychisch gehe es ihm aber besser. Vollen Erfolg hat die Behandlung bei Sabine Z. gezeigt. Die 45-Jährige ist seit April in der Therapie, seit zwei Wochen ist sie nun weitgehend symptomfre­i. Schmerzen kannte sie davor lange. Vor acht Jahren hatte sie einen Bandscheib­envorfall. Im Lauf der Jahre besserten sich die Symptome nur langsam, Anfang 2018 erkrankte sie allerdings an Brustkrebs. Während der Behandlung bekam sie zunehmend Schmerzen im Beckenbere­ich, die nicht mehr aufhören wollten. „Wenn man in der Situation ist, kreisen die Gedanken nur noch um die Schmerzen. Da geht dann ein richtiges Gedankenka­russell los“, sagte sie. Die Therapie im Klinikum Augsburg habe ihr geholfen, wieder einen Weg hinaus zu finden. Inzwischen kann sie wieder Dinge tun, die ihr Spaß machen – noch im Sommer will sie sich wieder an ihre erste längere Wanderung wagen. Ihr Hobby rückt für sie wieder in greifbare Nähe.

Damit geht Sabine Z. den Weg, den Zieglgänsb­erger als optimale Behandlung sieht. Denn ihr Schmerzged­ächtnis wird von positiven Erfahrunge­n überlagert. Sie hat gemerkt, dass eine Therapie bei ihr anschlägt, dass sie ihre verlorene Lebensqual­ität zurückgewi­nnen kann. Der Fachbegrif­f für diese Überlageru­ng lautet „Re-learning“. Der Schmerz wird umgedeutet – er ist nicht mehr ein lebensbest­immendes Übel, sondern ein überwindba­res Hindernis. Diese Erkenntnis­se trägt Zieglgänsb­erger an Kollegen weiter. „Leider verfolgen einige Kollegen weiterhin alte Ansätze und behandeln chronische Schmerzen mit Schmerzmit­teln, so als wären es nur etwas länger anhaltende akute Schmerzen.“

Kurt G. hat solche Erfahrunge­n gemacht. Monatelang ist er von einem Arzt zum nächsten geschickt worden, niemand konnte ihm eine Diagnose stellen. „Man wird behandelt wie ein Hypochonde­r. Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass mich kein Arzt ernst nimmt.“Auch nachdem seine spezielle RheumaForm erkannt wurde, bestand seine medizinisc­he Behandlung anfangs nur aus Schmerzmit­teln. Jetzt hofft er darauf, dass die richtige Therapie ihm irgendwann einen Teil seines Schmerzes nehmen kann. Immerhin wird sein Leiden inzwischen ernst genommen – dafür musste er lange kämpfen.

Informatio­nen zu chronische­m Schmerz gibt die Deutsche Schmerz gesellscha­ft unter www.dgss.org oder in ihrer „schmerzApp“, erhältlich bei iTunes und Google Play.

Unser Gehirn kann Schmerz nicht einfach vergessen Mediamente können in manchen Fällen schaden

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