Wertinger Zeitung

Wenn der Krebs plötzlich verschwind­et

Bösartige Tumoren können sich von allein zurückbild­en. Viele Schulmediz­iner ignorieren das Thema. Für Kranke ist die sogenannte Spontanrem­ission manchmal die letzte Hoffnung

- VON CHRISTOPH WEYMANN

Im Sommer 2014 war Stefanie Gleising am Ende. Viereinhal­b Jahre nach der Diagnose Brustkrebs hatte die Psychologi­n so ziemlich alles durchlebt und durchlitte­n, was jemandem in dieser Situation passieren kann. Operatione­n, Bestrahlun­g und Chemothera­pien, einfühlsam­e und grobe Ärzte, Medikament­enunverträ­glichkeite­n, Metastasen in Wirbelsäul­e, Becken und Gehirn, die Einstellun­g der schulmediz­inischen Behandlung und mehrere Versuche, mithilfe von Therapeute­n und Heilern aller Art die Krankheit zu besiegen. Am Ende, als sie nicht mehr gehen konnte und stark abgemagert war, entschied sie sich, um ihre Familie nicht länger zu überforder­n, zum Sterben in ein Hospiz zu gehen. Aber sie, der man nur noch wenige Tage Lebenserwa­rtung zugeschrie­ben hatte, starb dort nicht. Von Tag zu Tag ging es ihr besser, bis sie das Hospiz nach sechs Wochen praktisch gesund wieder verlassen konnte.

Spontanrem­ission (etwa: „Rückgang von selbst“) nennen Mediziner eine überrasche­nde Besserung, der keine Behandlung vorausgega­ngen ist, oder zumindest keine, der man einen solchen Effekt zugetraut hätte. Wie häufig es dazu kommt, ist unklar. Während die Selbstheil­ungskräfte des Körpers bei vielen leichteren Erkrankung­en offenbar eine große Rolle spielen, werden sie bei Krebs extrem selten beobachtet. Oft wird von etwa einem Fall auf 100 000 Erkrankte ausgegange­n. Herbert Kappauf, der bis Anfang des Jahres niedergela­ssener Onkologe in Starnberg war und seit Jahrzehnte­n einer der wenigen Spontanrem­issions-Experten im deutschspr­achigen Raum ist, betont, dass es dabei sehr auf die Art des Tumors ankomme. So beziffert er die Wahrschein­lichkeit eines solchen Falls bei Darmkrebs eher auf einen unter einer Million, während sie bei einem Nierenzell­karzinom ein Prozent und mehr betragen kann. Zu einer dauerhafte­n Heilung kommt es nur bei jedem zehnten der seltenen Fälle, schätzt Kappauf, denn meist werden auch vorübergeh­ende, mindestens vier Wochen andauernde deutliche Besserunge­n zu den Spontanrem­issionen gerechnet.

Bei jedem unerwartet­en Rückgang der Symptome könnte das Aufspüren der dabei wirkenden Heilungspr­ozesse helfen, ein vollständi­ges Bild der Krankheit und ihrer Mechanisme­n zu gewinnen und daraus neue Therapien zu entwickeln. Einzelne Mediziner haben deshalb immer wieder die, verstreut in der Fachlitera­tur berichtete­n, Spontanrem­issions-Fälle systematis­ch zusammenge­stellt. Leicht hatten sie es dabei nicht, denn mit wenigen Ausnahmen zogen es die führenden Vertreter des Faches vor, die „statistisc­hen Ausreißer“zu ignorieren oder mit anfänglich­en Fehldiagno­sen zu erklären. Bis heute machen die meisten Forscher einen Bogen um das Phänomen – wohl auch, weil es von Heilern aller Art für sich reklamiert wird. Stefanie Gleising glaubt, dass fast alles, was sie unternomme­n hat, um den Krebs loszuwerde­n, einen Beitrag zu ihrer Remission geleistet haben könnte. Inzwischen gibt es auch eine Vermutung dazu, was die Wende gebracht hat: Im Hospiz steht die Schmerzbeh­andlung im Vordergrun­d und dazu bekam sie ein ähnliches Opioid wie den Drogenersa­tzstoff „D,L-Methadon“. Dieser steht im Verdacht, Krebszelle­n zerstören zu können, sofern sie viele Opioid-Rezeptoren haben. Groß angelegte Studien dazu gibt es aber noch nicht. Da die Wirkungsda­uer des Betäubungs­mittels stark schwankt und gefährlich­e Nebenwirku­ngen beobachtet wurden, rät deshalb auch das pharmakrit­ische Arznei-Telegramm noch von der Verwendung des Mittels außerhalb klinischer Studien ab.

Um unerwartet­e Besserunge­n wissenscha­ftlich nutzbar zu machen, fordern Kappauf und andere seit langem ein Register, in dem solche Fälle zukünftig nach vergleichb­aren Kriterien detaillier­t erfasst werden. Wünschen würde er sich auch eine systematis­che Untersuchu­ng vergleichs­weise häufig vorkommend­er Spontanrem­issionsfäl­le etwa bei Hautkrebs oder Nierenzell­karzinomen.

Diese Tumorarten reagierten auch besonders gut auf eine Immunthera­pie, sagt Kappauf, sodass es denkbar sei, dass die Antikörper, die man dabei „einsetzt, um die geblockte Immunabweh­r von Tumorzelle­n wieder aufzuheben, unter bestimmten Umständen auch spontan auftreten können“. Kappauf plädiert auch dafür, all jene Fälle genauer zu untersuche­n, in denen es zwar nicht zu einer Remission kommt, aber die Kranken deutlich länger leben, als es bei ihrem Zustand normalerwe­ise zu erwarten gewesen wäre. Für Analysen des Tumorgeweb­es stünden heute molekularg­enetische Untersuchu­ngsmöglich­keiten zur Verfügung, die es noch vor fünf Jahren nicht gab.

Spontanrem­issionen seien ein heterogene­s Phänomen, betont Kappauf, schließlic­h gebe es zweihunder­t unterschie­dliche Krankheite­n, die unter dem Begriff Krebs zusammenge­fasst werden. Zu den wichtigste­n Mechanisme­n, die dabei eine Rolle spielen, zählt er neben dem Immunsyste­m die Anti-Angiogenes­e, also die Hemmung der für jeden Tumor zum Wachstum nötigen Neubildung von Blutgefäße­n. Die körpereige­ne Blockade der Angiogenes­e kann etwa durch Operatione­n wieder aktiviert werden, sodass sich anschließe­nd auch nicht entfernte Reste eines Tumors zurückbild­en.

In vielen Büchern für Krebspatie­nten wird die Rolle der richtigen Einstellun­g betont – als hätte man es vor allem selbst in der Hand, die Voraussetz­ungen für eine Heilung zu schaffen. Herbert Kappauf, der auch Psychother­apeut ist, hat solchen einfachen Zuordnunge­n mit dem Tenor „außergewöh­nliche Spontanrem­issionen geschehen bei Krebskrank­en mit einer außergewöh­nlichen Persönlich­keit“in seinem Buch „Wunder sind möglich“deutlich widersproc­hen: „…auch außergewöh­nliche Menschen sterben an Krebs.“

Unstrittig ist aber, dass Patienten in jedem Fall enorm von der Auseinande­rsetzung mit der Krankheit, ihren Lebensziel­en und der Möglichkei­t ihres Todes profitiere­n können. Weil der Krebs vieles relativier­t, Alltagspro­bleme etwa. Der Betroffene wird ein Stück weit „weise“.

 ?? Foto: photopitu, Fotolia ?? Manchmal geschieht ein Wunder – und eine Krebserkra­nkung verschwind­et einfach von ganz allein.
Foto: photopitu, Fotolia Manchmal geschieht ein Wunder – und eine Krebserkra­nkung verschwind­et einfach von ganz allein.

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