Wertinger Zeitung

Leben im Fußballtak­t

- VON ERICH PAWLU redaktion@wertinger zeitung.de

Toni Kroos hat mit seinem Tor möglich gemacht, was große Dichter und Denker vergeblich forderten. Rainer Maria Rilke und der Philosoph Peter Sloterdijk haben uns zugerufen: „Du musst dein Leben ändern!“Aber erst jetzt, mit dem Fußballsie­g am Samstag, sind wir dazu bereit.

Hätten uns die Schweden heimgeschi­ckt, wäre jede Aufbruchss­timmung zerplatzt. Jetzt aber haben viele Familien ihr Leben bereits umgestellt. Getaktet wird das Tagesprogr­amm jetzt nicht mehr nach alten Gewohnheit­en, sondern nach den WM-Übertragun­gen im Fernsehen. Manches Kaffeekrän­zchen entfällt, weil am Nachmittag ein wichtiges WM-Spiel übertragen wird. Am Abend locken nicht mehr die Betten, sondern die Heldentate­n unserer kickenden Superstars. Vor dem Fernsehsch­irm entsteht ein neuer Mensch, der die bürgerlich­en Tagesabläu­fe abschüttel­t und zum Weltbürger heranreift. Denn dieser neue Mensch lebt mit der ganzen Welt im Fußballtak­t.

Endlich sind wir ein „einig Volk von Brüdern“, weil alle Mitbürgeri­nnen und Mitbürger während der WM-Wochen im gleichen Rhythmus hoffen und bangen. Wenn dieser Rhythmus ein Gespräch überhaupt noch zulässt, ist das Thema immer identisch: Es handelt von Siegen und Niederlage­n in Russland. Gewaltig geirrt hat sich der Gelehrte Daniel Georg Morhof, der 1682 die Behauptung vertrat: „Im Teutschen wird kein Rhythmus Identicus zugelassse­n.“

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