Leben im Fußballtakt
Toni Kroos hat mit seinem Tor möglich gemacht, was große Dichter und Denker vergeblich forderten. Rainer Maria Rilke und der Philosoph Peter Sloterdijk haben uns zugerufen: „Du musst dein Leben ändern!“Aber erst jetzt, mit dem Fußballsieg am Samstag, sind wir dazu bereit.
Hätten uns die Schweden heimgeschickt, wäre jede Aufbruchsstimmung zerplatzt. Jetzt aber haben viele Familien ihr Leben bereits umgestellt. Getaktet wird das Tagesprogramm jetzt nicht mehr nach alten Gewohnheiten, sondern nach den WM-Übertragungen im Fernsehen. Manches Kaffeekränzchen entfällt, weil am Nachmittag ein wichtiges WM-Spiel übertragen wird. Am Abend locken nicht mehr die Betten, sondern die Heldentaten unserer kickenden Superstars. Vor dem Fernsehschirm entsteht ein neuer Mensch, der die bürgerlichen Tagesabläufe abschüttelt und zum Weltbürger heranreift. Denn dieser neue Mensch lebt mit der ganzen Welt im Fußballtakt.
Endlich sind wir ein „einig Volk von Brüdern“, weil alle Mitbürgerinnen und Mitbürger während der WM-Wochen im gleichen Rhythmus hoffen und bangen. Wenn dieser Rhythmus ein Gespräch überhaupt noch zulässt, ist das Thema immer identisch: Es handelt von Siegen und Niederlagen in Russland. Gewaltig geirrt hat sich der Gelehrte Daniel Georg Morhof, der 1682 die Behauptung vertrat: „Im Teutschen wird kein Rhythmus Identicus zugelasssen.“