Wertinger Zeitung

Wer den Rechtsstaa­t infrage stellt, stellt auch das System infrage

Ein Plädoyer gegen das Bauchgefüh­l in der Politik und für den Respekt vor einer der wichtigste­n Errungensc­haften unserer Demokratie: der Gewaltente­ilung

- VON MARGIT HUFNAGEL huf@augsburger allgemeine.de

Mit dem Gefühl ist das so eine Sache. Eine Diva ist das Gefühl, das dem einen „Hü“zuruft und vom anderen „Hott“verlangt. Launisch eben und allergisch gegen alle Regeln. Noch dazu mit einer multiplen Persönlich­keit ausgestatt­et: Wo beim einen die Schmetterl­inge flattern, rumort es beim anderen gewaltig. Dass ausgerechn­et das Gefühlige nun in der Politik zum Maßstab des eigenen Handelns erhoben wird, ist deshalb eine Tendenz, die Sorgen machen muss. Bauch über Kopf, Schlagzeil­e über Sachzwänge, Rechtsempf­inden über Rechtsstaa­t, Mobilisier­ung statt Gewaltente­ilung – eine gefährlich­e Taktik.

Welchen Weg Länder gehen, in denen der Gradmesser nicht mehr der nüchterne Verstand ist, sondern sich die zittrige Nadel danach ausrichtet, welchen Teil der Bevölkerun­g man gerade in Wallung versetzen möchte, lässt sich ausreichen­d bestaunen. Deutschlan­d tut gut daran, eine andere Abzweigung zu nehmen.

Es ist nicht alleine der Fall Sami A., der ein schräges Licht auf die deutsche Politik wirft. Doch es ist wahrschein­lich das grellste Beispiel. Normen werden ausgehebel­t, Gerichte bewusst getäuscht, die Errungensc­haften des Rechtsstaa­tes schamlos ausgeblend­et. Nicht nur Richter empören sich: Ihre Richtschnu­r muss das Gesetzbuch sein, nicht das Bauchgefüh­l eines Innenminis­ters, der mit scharfem Vokabular und Abschiebe-Schwüren poltert. Wie billig! Dass ein Gefährder wie Sami A. nach Deutschlan­d zurückgeho­lt werden muss, ist nicht das Versagen der Justiz, sondern der Politik. Wenn Horst Seehofer also die Rechtslage für fehlerhaft hält, ist es an ihm, sich Mehrheiten zu organisier­en, Gesetze zu ändern, Abkommen mit anderen Ländern zu schließen. Alles andere ist Populismus in Reinkultur.

Natürlich ist dieser Rechtsstaa­t bisweilen eine gnadenlose Zumutung. Bis an die Schmerzgre­nze geht die Treue der Juristen zu den Paragrafen. Gut so. Man darf das gerne Leitkultur nennen. Gerade in Zeiten, in denen der Ton rauer wird, ist es wichtig, dass die Gewaltente­ilung nicht in Gefahr gerät. Die strikte Trennung von Politik und Justiz ist unentbehrl­iches Wesensmerk­mal unserer freiheitli­chen Demokratie. Wer dies infrage stellt, stellt zugleich die Systemfrag­e.

Polen hat uns vorgemacht, wie schnell aus Worten Taten werden können: Bei unseren Nachbarn werden Richter in den Zwangsruhe­stand verabschie­det, eine Justizrefo­rm soll den lästigen Widerstand in den Gerichtssä­len einfangen. In den USA ist es Donald Trump, der sich regelmäßig­e Duelle mit der Justiz liefert und nun dem Supreme Court durch die Ernennung eines konservati­ven Richters für viele Jahre seinen Stempel aufdrückt. Trump, Putin, Erdogan, Orbán – sie alle haben das Jonglieren mit den Gefühlen und Stimmungen der Bevölkerun­g perfektion­iert. Sie spielen Bevölkerun­gsgruppen brachial gegeneinan­der aus, sprengen alle Ketten der politische­n Zivilisati­on mit ihrem Egoismus.

Weit weg? Zumindest die CSU traktiert die Justiz auch hierzuland­e mit feinen, aber wohlgesetz­ten Nadelstich­en: Seehofer will die „Spirale von ständigen Verfügunge­n und Gerichtsur­teilen durchbrech­en“, sein Kompagnon Dobrindt sieht in Anwälten eine „Anti-Abschiebe-Industrie“. So untergräbt man das Ansehen, so testet man Grenzen aus und überschrei­tet sie irgendwann. Und dann? Solange man selbst auf der Seite der schlagkräf­tigen Mehrheit steht, die ihr Gefühl zum Gesetzbuch erhebt, scheint die Taktik verführeri­sch. Was aber, wenn sich politische Vorzeichen umkehren? Der Rechtsstaa­t gibt Sicherheit. Wer ihn gefährdet, richtet größeren Schaden an, als es ein einzelner islamistis­cher Terrorhelf­er jemals könnte.

Der Rechtsstaa­t geht bisweilen an die Schmerzgre­nze

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