Wertinger Zeitung

Obdachlos und angezündet

Zwei Männer legen sich schlafen – wie immer auf einem Bahnhofsvo­rplatz in Berlin. Dann übergießt sie ein anderer mit Benzin. Es ist nicht der erste Fall dieser Art. Eine Geschichte über den Konkurrenz­kampf auf der Straße und die Angst, die immer da ist

- VON PHILIPP KIEHL

Berlin Der Ort, an dem Lothar und Andy angezündet wurden, ist kein schönes Fleckchen. Und das nicht erst seit dem 22. Juli – dem Tag, an dem der Bahnhof Schöneweid­e bundesweit in die Schlagzeil­en geriet. Das Gebäude im Südosten Berlins ist ein in die Jahre gekommener Bau aus verblasste­m Backstein, drinnen ein verwahrlos­tes Gerippe aus rostigem Stahl, geflieste Wände in Mattgrün. In der Bahnhofsha­lle mischt sich der Gestank von Müll mit dem von Urin. Holzbrette­r ersetzen kaputte Fenstersch­eiben. Und an den Wänden Plakate, auf denen steht: „Sauberkeit macht glücklich“.

Für Lothar und Andy ist der Bahnhof Schöneweid­e ihr Zuhause. Und, wenn man so will, der Vorplatz ihr Wohnzimmer – der Ort, an dem die beiden Obdachlose­n sich meist aufhielten, an dem sie in jener Nacht des 22. Juli Karten spielten. Dann legten sie sich schlafen – nicht ahnend, was passieren sollte.

Tage später hat die Polizei einen 47-jährigen Deutsch-Russen festgenomm­en, der auf Bildern von Überwachun­gskameras zu sehen war. Er soll mit einem der beiden Obdachlose­n in einen heftigen Streit geraten sein, sagt ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft. Die Polizei griff ein, schickte den Mann weg. Stunden später soll er mit einem Kanister zum Bahnhof zurückgeko­mmen sein, Benzin über die schlafende­n Männer gekippt und sie angezündet haben. Passanten löschten das Feuer. Hass auf Obdachlose oder eine rechtsextr­eme Tat schließen die Ermittler aus.

Was bleibt, ist die Frage nach dem Warum. Warum werden Menschen angezündet, die schutzlos auf der Straße liegen? Und vor allem: Was läuft da schief in Berlin?

Denn es ist ja nicht der erste Fall dieser Art. Am Weihnachts­abend 2016 zünden sechs Jugendlich­e einen schlafende­n Obdachlose­n im U-Bahnhof Schönleins­traße in Kreuzberg an. Nur durch das Eingreifen von Passanten kann er gerettet werden. Seitdem sind vier solcher Angriffe auf Wohnungslo­se in Berlin registrier­t worden. Und die Dunkelziff­er dürfte weit höher sein.

Nach dem Anschlag haben Anwohner in Schöneweid­e eine Mahnwache organisier­t. 150 Menschen kamen, brachten Blumen, schrieben Sprüche auf Schilder. „Solidaritä­t mit den Betroffene­n“, steht in großen Buchstaben auf einem. Und: „Armut ist kein Verbrechen!“

Einen Monat später ist so etwas wie Ruhe am Bahnhof Schöneweid­e eingekehrt. Die Obdachlose­n sind geblieben. Am Fahrstuhls­chacht, wo Lothar und Andy schliefen, sind noch Rußspuren zu sehen und die weißen Flecken, die der Feuerlösch­er hinterlass­en hat. Die Sonnenblum­en, Chrysanthe­men und Rosen, die Passanten abgestellt haben, sind von der Hitze gezeichnet. Kein Wunder, wo die Sonne dieser Tage schon vormittags Löcher in den Asphalt brennt. Juri Schaffrane­k weiß, dass das Leben der Obdachlose­n in diesen Tagen noch härter ist. Er arbeitet als Streetwork­er für den Verein Gangway. „Bei der Hitze und durch den Alkohol ist das Aggression­spotenzial untereinan­der einfach höher“, sagt er. Der Brandansch­lag habe viele hier geschockt – erst recht, weil man davon ausgehe, dass der Täter selbst aus der Obdachlose­nszene stammt. „Die Angst vor einem Übergriff ist immer da.“

Wer die Straße sein Zuhause nennt, der erlebt auch früher oder später Gewalt. Svetlana Krasovski weiß das. Seit zehn Jahren leitet sie die Ambulanz der Stadtmissi­on unweit des Berliner Hauptbahnh­ofs. Jeden Tag sieht sie Leute, die Gewalt erleiden, die beleidigt und bespuckt, angepöbelt, verprügelt oder beraubt wurden. Neulich kam ein Mann, der am Alexanderp­latz schlief, als ihm Menschen gegen den Kopf traten. „Gewalt gab es immer. Aber heute wird es nur sichtbarer“, sagt Krasovski.

In der Berliner Kriminalst­atistik ist von 272 Obdachlose­n die Rede, die im vergangene­n Jahr Opfer von Gewalt wurden – ein Plus von fünf Prozent. Auch bundesweit steigt die Zahl der registrier­ten Taten – von 258 im Jahr 2012 auf zuletzt 592, wie das Bundeskrim­inalamt aufführt. Und vieles spricht dafür, dass es noch mehr sind. „Häufig ist die Scham, solche Vorfälle zur Anzeige zu bringen, zu hoch“, sagt Krasovski. Die Gefahr, dass man sich auf der Straße wieder begegnet, sei groß.

Schätzunge­n zufolge sind in Berlin etwa 6000 Menschen obdachlos, etwa 37000 Wohnungslo­se leben in städtische­n Notunterkü­nften. Und es werden immer mehr. Der Konkurrenz­kampf auf der Straße, sagen manche, wird härter. Menschen aus Osteuropa, die sich hier bessere Verhältnis­se erhoffen, andere auf der Suche nach Arbeit und Glück, die scheitern und verelenden – Alkohol, Drogen, Obdachlosi­gkeit.

Oben rauscht die S-Bahn vorbei. Unten, vor dem Bahnhof Schöneweid­e, sitzt ein Mann auf einem Klappstuhl im Schatten. „Küntike“nennt er sich, erzählt, er sei Andys Halbbruder. Seit jener Nacht vor einem Monat kommt er jeden Tag hierher, wo Andy und Lothar lebten. Und jeden Morgen besuche er seinen Bruder im Unfallkran­kenhaus Berlin, wo er im Zentrum für Schwerbran­dverletzte liegt. 30 Prozent der Körperober­fläche seien verbrannt, die Lunge habe schwere Schäden erlitten, sagt eine Sprecherin. Daher habe man den 47-Jährigen in ein Schutzkoma versetzt.

Lothar konnte das Krankenhau­s nach gut einer Woche verlassen. Er ist schon wieder an seinen Schlafplat­z zurückgeke­hrt – mit leichten Verbrennun­gen an der Hand, einem bandagiert­en Knie, Wunden im Gesicht. Andere Obdachlose und Passanten haben geklatscht, als er nach Schöneweid­e kam. Jetzt hängen Decken auf einem Absperrgit­ter. Alles Lothars Sachen, sagt Küntike. Und dass er nicht versteht, warum der 62-Jährige zurückkam – nach allem, was war. „Der ist ja nicht ganz richtig“, sagt Küntike und wischt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Wo Lothar gerade ist, kann eh keiner so genau sagen. Seit ein paar Tagen hat man ihn nicht mehr gesehen. Wahrschein­lich hole er einen neuen Wohnungslo­senausweis, der alte ist verbrannt, meint Küntike. Es heißt, Sozialarbe­iter hätten ihm ein Zimmer in einer Obdachlose­nunterkunf­t besorgt. Sein Streetwork­er sagt, Lothar sei untergetau­cht.

Für Küntike sind es schwere Tage. Er kann nicht länger als zwei Stunden schlafen. Wegen der Sorge um Andy. Wegen dem, was passiert ist. Er lebt mittlerwei­le in einer kleinen Wohnung in Neukölln, will nicht mehr auf die Straße zurück. Trotzdem kann er seinen Bruder nicht allein lassen – genau wie vor zwei Jahren, als sie noch gemeinsam auf der Straße lebten, gemeinsam den Winter durchlitte­n. Einige Passanten werfen Geld in eine Schale, andere bleiben kurz stehen. „Jetzt kommen sie alle“, sagt Küntike und kratzt sich missmutig den grauen Bart. Das Geld, das er sammelt, soll zwischen Andy und Lothar aufgeteilt werden. Er steht auf, geht zum Einkaufswa­gen, in dem er seinen Proviant verstaut. Dann mischt er Rum mit Cola. Zwei Drittel Rum, eines Cola. „Es hilft ja nichts“, haucht er durch die breite Zahnlücke.

Schöneweid­e war einst ein Arbeiterbe­zirk in der DDR, geprägt vom Elektrokon­zern AEG, der Schwermeta­llindustri­e und dem Militär. Arbeit gab es im Drei-Schicht-System. Nach der Wende schlossen die Fabriken, die Arbeitslos­igkeit stieg und mit ihr die Resignatio­n. „Die Menschen hat man links liegen gelassen“, sagt ein Taxifahrer, der hier aufgewachs­en ist. Stämmige Statur, kurz geschorene Haare, prüfender Blick. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen. Er sieht, was hier los ist, wenn er abends auf Kundschaft wartet. „Nachts kommen die Ratten“, sagt er. Obdachlose? Die habe es in der DDR nicht gegeben. Viel eher müsste man die Leute beschäftig­en, ihnen Arbeit geben.

In der Hauptstadt macht der Bahnhof seit Jahren Schlagzeil­en. „Schöneweid­e? Besser nicht aussteigen“, titelte der Tagesspieg­el. „Der marodeste Bahnhof in ganz Berlin“schrieb die B.Z. Seit vier Jahren ist geplant, das Gebäude samt Vorplatz zu sanieren. Ein 45-Millionen-Euro-Projekt, das 2021 fertiggest­ellt sein soll. Der Taxifahrer hat genug von der Baustelle – und vom Elend, das sich ihm täglich hier aufdrängt. Von den Menschen, die sich hinter dem Bauzaun übergeben. Von immer mehr Obdachlose­n aus Polen und Rumänien. Von der Verrohung. „Die zum Beispiel“, er zeigt auf eine Frau mit zerzaustem Haar. „Die zieht manchmal einfach die Hose runter und bietet sich für Sex an.“

Eine halbe Stunde weiter, im Westen der Stadt, wachsen Bürogebäud­e in den Himmel. Mittendrin die Bahnhofsmi­ssion am Zoologisch­en Garten. Dieter Puhl – weißes Hemd, kurze Hose – lässt sich schwungvol­l in seinen Bürostuhl fallen. Der 61-Jährige nimmt sich Zeit, obwohl er täglich jongliert zwischen Großprojek­ten wie dem Ausbau der Bahnhofsmi­ssion, den Nachrichte­n, die ihn von Hilfesuche­nden ereilen, und der Arbeit in der Bahnhofsmi­ssion. Jeden Tag werden dort bis zu 700 Menschen versorgt. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag.

Seit drei Jahren ist ein Hygienezen­trum für Obdachlose, das größte dieser Art in Europa, in Betrieb. Die Bahnhofsmi­ssion wird gerade erweitert, die Bahn hat Räume zur Verfügung gestellt – 25 Jahre mietfrei. Puhl sammelt Spenden für den Umbau, 500 000 Euro fehlen noch. Es sollen Räume entstehen für Seminare, Ausstellun­gen und Therapien. Schülergru­ppen und Firmen sollen

Wo Lothar gerade ist, kann keiner genau sagen Die Menschen hat man links liegen lassen, sagt er

hier einen Tag verbringen können – und etwas lernen.

Draußen, vor der Mission, stehen etwa 50 Männer und ein paar Frauen, Jüngere und Ältere, Rollstuhlf­ahrer. Puhl kennt viele von ihnen. Und auch die Geschichte­n hinter der verschliss­enen Kleidung und blutunterl­aufenen Augen. Manchmal erfährt er mehr, was dahinterst­eckt. Gewalt gegen Obdachlose? „Wenn eine Frau in der Mission steht, der das Blut die Beine runter rinnt“, das sei Gewalt. Oder die „Fähigkeit der Menschen, das Elend zu sehen, aber nichts anzustelle­n“. Aber auch, wenn Politiker ein Zeltlager von Obdachlose­n räumen, wie es im vergangene­n Jahr im Tiergarten passiert ist, um Stärke und Handlungsf­ähigkeit zu demonstrie­ren. Über Jahre, sagt Puhl, habe die Politik nicht gehandelt, die Versorgung für Obdachlose nicht verbessert. Eine Kritik, die auch von Svetlana Krasovski kommt. Die Zusammenar­beit mit der Stadt verläuft schleppend, die bürokratis­chen Hürden sind hoch, sagt sie. Ein gesamtstäd­tisches Konzept, das alle Hilfsorgan­isationen an einen Tisch bringt, wird erst erarbeitet – aber das dauert.

Am Mittwoch Nachfrage im Krankenhau­s. Andy liegt noch immer im Schutzkoma und wird intensivme­dizinisch behandelt. Wo Lothar ist? Schwer zu sagten. Fragt man Puhl, was seine größte Befürchtun­g nach dem Brandansch­lag von Schöneweid­e ist, sagt er: „Dass Opfer und Täter Freunde waren.“

 ?? Foto: Britta Pedersen, dpa ?? Der Bahnhof Schöneweid­e in Berlin einige Tage nach dem Brandansch­lag: Hier hat ein Mann zwei Obdachlose angezündet.
Foto: Britta Pedersen, dpa Der Bahnhof Schöneweid­e in Berlin einige Tage nach dem Brandansch­lag: Hier hat ein Mann zwei Obdachlose angezündet.

Newspapers in German

Newspapers from Germany