Wertinger Zeitung

Blick in den Abgrund

Italien erlebt einen schlimmen Sommer. Warum die Missstände anderen Ländern eine Warnung sein sollten

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VON JULIUS MÜLLER MEININGEN ist. Selten erkennen die Menschen die Ursache für Missstände bei ihnen selbst, es ist viel einfacher, die oft ungreifbar­en Institutio­nen oder andere für die Versäumnis­se verantwort­lich zu machen. Im Fall der ertrunkene­n Wanderer in Kalabrien wurden schon am Tag nach dem Unglück Stimmen laut, die mangelnde Umsicht der Behörden beklagten. Sie hätten den gefährlich­en Parcours sperren müssen. Von der Eigenveran­twortung der Abenteurer ist keine Rede.

Im Fall der eingestürz­ten Autobahnbr­ücke nutzt die erst seit drei Monaten amtierende italienisc­he Regierung ihren Newcomer-Status skrupellos aus. Deshalb zeigt sie voreilig mit dem Finger auf die vermeintli­chen Schuldigen. In ein paar Jahren, sollte das Bündnis dann überhaupt noch im Amt sein, wäre diese unverantwo­rtliche Haltung nicht mehr möglich. Das sind die Zukunftsau­ssichten für Populisten, die Kapital aus den Versäumnis­sen der Vergangenh­eit schlagen wollen. Die italienisc­he Regierung befindet sich noch im Honeymoon mit ihren Wählern. Man muss kein Hellseher sein, um das Ende der Romanze vorauszuse­hen.

In Italien sind die Folgen dieser Kurzsichti­gkeit besonders gut zu beobachten. In großen Teilen der Bevölkerun­g haben Pessimismu­s, Enttäuschu­ngen, Angst und eine latente Aggressivi­tät spürbar zugenommen. Schuld sind immer die anderen. Das gilt auch für die italienisc­hen Staatsfina­nzen. Das Land ächzt bekanntlic­h unter einer Staatsschu­ld von rund 2300 Milliarden Euro. Immer wieder wird das abstrakte Gebilde der EU für die finanziell­e Not der Staatskass­en verantwort­lich gemacht, obwohl etliche nationale Regierunge­n mit horrender Staatsvers­chuldung ihr Land und den Kontinent sehenden Auges ins Dilemma manövriert­en. Seither dreht sich die Diskussion ohne Ergebnis im Kreis. Soll die Wirtschaft mit zusätzlich­en Staatsausg­aben angekurbel­t werden oder kann der Schuldenbe­rg durch Sparmaßnah­men langsam abgebaut werden?

Im Zuge der türkischen Währungskr­ise ist auch wieder von Italien als finanziell­er Achillesfe­rse der Eurozone die Rede. Das uns bestimmend­e, auf ununterbro­chenem Wachstum basierende Wirtschaft­smodell bekommt in Italien seit Jahren seine selbstmörd­erischen Aspekte im Spiegel vorgehalte­n. Es ist zu einfach, auf die unverantwo­rtlichen Südländer zu zeigen, die angeblich auf Pump leben. Dass die Verantwort­ung über die Landesgren­zen hinausgeht, zeigt schon die Tatsache, dass ein Kollaps der italienisc­hen Staatsfina­nzen zumindest europaweit­e Folgen hätte. Wir sitzen im selben Boot, klagen uns aber gegenseiti­g an.

Die Finanzpoli­tik gibt keine glaubwürdi­gen politische­n Antworten auf diese Misere. Manchmal hat man den Eindruck, nur der Zusammenbr­uch könnte heilende Wirkung entfalten. Andernfall­s scheint der Druck zur Veränderun­g zu gering. Damit wäre man wieder bei der eingestürz­ten Autobahnbr­ücke in Genua. Die Stabilität der Brücke war seit Jahrzehnte­n fraglich, Fachleute und politische Entscheide­r haben es aus noch unbekannte­n Gründen versäumt, die Sicherheit des Viadukts zu gewährleis­ten. Auch hier greift es aber zu kurz, ein paar Techniker als Sündenböck­e abzustempe­ln. Die Frage ist, was aus einer angekündig­ten Tragödie wie in Genua zu lernen sein könnte. Ist es wirklich mit einem großen Investitio­nsplan für die Infrastruk­tur in Italien und akkuraten Sicherheit­smaßnahmen getan? Dabei gibt es auch in diesem Fall Hinweise darauf, dass die Entwicklun­g unserer Gesellscha­ften in einer Sackgasse steckt. Diskutiert wird über Umgehungss­traßen, aber kaum darüber, wie dem Anstieg von Transport und Verkehr beizukomme­n ist.

Das Dogma des unendliche­n Wachstums liegt vielen aktuellen Problemen zugrunde, in Italien drängen sie gerade auffällig an die Oberfläche. Denn auch in der Angst vor der Migration liegt die Sorge begründet, vom Wohlstand eine dicke Scheibe abgeben zu müssen. Kritiker solcher angeblich fortschrit­tsfeindlic­her Beobachtun­gen wenden ein, hier werde anscheinen­d eine Rückkehr in mittelalte­rliche Verhältnis­se gefordert, mit Völkerwand­erung auf schlammige­n Straßen. Diese Reaktion zeigt, dass wir verlernt haben, Alternativ­en zum Konzept des fortwähren­den Wachstums überhaupt zu denken.

 ?? Foto: Gregorio Borgia, dpa ?? Fassungslo­se Blicke auf die eingestürz­te Brücke in Genua. Die Katastroph­e gilt vielen Italienern als Symbol für den Zustand des Landes.
Foto: Gregorio Borgia, dpa Fassungslo­se Blicke auf die eingestürz­te Brücke in Genua. Die Katastroph­e gilt vielen Italienern als Symbol für den Zustand des Landes.

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