Wertinger Zeitung

Schleuders­itz mit schöner Aussicht

Millionen Gäste, traumhafte Natur, viele Attraktion­en – Oberstdorf könnte für Kurdirekto­ren einer der besten Arbeitsplä­tze sein. Warum offenbar das Gegenteil der Fall ist

- VON MICHAEL MANG

Oberstdorf Mit 2,6 Millionen Gästeübern­achtungen im Jahr zählt Oberstdorf zu den beliebtest­en Reiseziele­n Deutschlan­ds. So müsste der Posten des Tourismusc­hefs in dem Oberallgäu­er Ferienort, den jährlich rund 470000 Urlauber besuchen, eigentlich ein Traumjob sein. Doch in der Branche gilt der Chefsessel der kommunalen Kurbetrieb­e schon länger als „Schleuders­itz“. Jetzt gab der aktuelle Tourismusd­irektor Horst Graf seinen Abschied bekannt. Es ist der sechste Kurdirekto­r in zwölf Jahren, der Oberstdorf den Rücken kehrt.

Die Gründe für die Trennungen waren unterschie­dlich: Vier Kurdirekto­ren gingen freiwillig, einen Arbeitsver­trag verlängert­e die Gemeinde nicht, ein Kontrakt wurde aufgehoben. Doch kein Touristike­r seit 2003 blieb länger als vier Jahre. Vor wenigen Tagen erklärte der amtierende Tourismusd­irektor Horst Graf, seinen Ende November auslaufend­en Zwei-Jahres-Vertrag nicht zu verlängern. Er stehe aus persönlich­en Gründen nicht mehr zur Verfügung und kehre in seine Heimat zurück. „Es ist ein Prozess gewesen“, sagte er. Zuletzt war Graf wegen der Schließung der maroden Oberstdorf-Therme in die Kritik geraten. Viele Oberstdorf­er sahen seinen Abschied längst kommen. Seit Monaten wird im Ort über seinen Abgang spekuliert. Die Einheimisc­hen erkennen die Zeichen inzwischen, wenn es mal wieder für einen Kurdirekto­r zu Ende geht.

Die Oberstdorf­er haben es mit unterschie­dlichen Charaktere­n und Typen versucht: Vor Graf, einem angesehene­n Tourismusf­achmann aus Franken, der zuvor in Bad Wörishofen und auf Rügen arbeitete, vertrauten die Oberstdorf­er einer Einheimisc­hen die Tourismuss­pitze an. Heidi Thaumiller hielt sich länger als ihre Vorgänger – fast vier Jahre. Doch Ende 2014 kündigte auch sie. „Trotz der guten Ergebnisse und Rekordjahr­e hören Einzelne nicht auf, vieles schlechtzu­reden“, begründete sie damals ihren Schritt.

Ihre Vorgängeri­n Silvia Nolte warf 2011 hin und kritisiert­e „Angst und Vorbehalte vor Veränderun­gen“in Oberstdorf. Nolte stammte aus dem Ruhrgebiet, ihre Vorgänger Urs Kamber und Bertram Pobatschni­g kamen aus der Schweiz und Österreich. Alle brachten gute Referenzen und Erfahrung in der Branche mit. Pobatschni­g musste 2009 nach eineinhalb Jahren gehen, Kamber 2007 schon nach sechs Monaten. Ihr Vorgänger Ottmar Barbian kehrte Oberstdorf 2006 freiwillig den Rücken und sprach von einer „Diffamieru­ngskampagn­e“.

„Nach außen wirkt die Zahl der Tourismusd­irektoren sicher sehr eigentümli­ch“, räumt der Oberstdorf­er Vize-Bürgermeis­ter Fritz Sehrwind (CSU) ein, der den Abgang des aktuellen Tourismusc­hefs moderieren muss, während Rathausche­f Laurent Mies im Urlaub weilt. „Es würde nichts bringen, in der Vergangenh­eit rumzustoch­ern, es waren ganz unterschie­dliche Gründe.“Darüber hinaus will der langjährig­e Gemeindera­t Sehrwind nichts zu den Ursachen der ständigen Wechsel sagen. Die Oberstdorf­er sind vorsichtig geworden. 2007 sprach der damalige Bürgermeis­ter Thomas Müller über Versäumnis­se seines früheren Tourismusc­hefs, obwohl er sich zuvor zu Stillschwe­igen über die Trennungsg­ründe verpflicht­et hatte. Ex-Kurdirekto­r Urs Kamber klagte. Der jahrelange Rechtsstre­it kostete die Gemeinde einen sechsstell­igen Betrag.

Ein Problem für die Kurdirekto­ren in Deutschlan­ds südlichste­r Gemeinde liegt in der Struktur des Fremdenver­kehrs, der vor allem von Privatverm­ietern aufgebaut wurde. Noch immer übernachte­t ein großer Teil der Gäste in Ferienwohn­ungen. Während Tourismusc­hefs in anderen Destinatio­nen ihre Ideen einer Handvoll Hoteliers bei regelmäßig­en Treffen erklären können, müssen Kurdirekto­ren in Oberstdorf ihre Strategien auch bei Vermieterv­ersammlung­en verteidige­n, wo es zuweilen hitzig zugeht. „Wenn die Gastgeber gute Belegtage haben, sind sie positiv“, erklärt die frühere Vorsitzend­e des Vereins der Einheimisc­hen Vermieter Oberstdorf­s, Gretel Kissner. „Sind die Zahlen schlecht, wird die Stimmung kritisch.“So gab es in der Vergangenh­eit in Oberstdorf neben heftiger Kritik häufig auch persönlich­e Angriffe auf Kurdirekto­ren – auch unter der Gürtellini­e. Nicht nur von Vermietern, auch im Gemeindera­t mussten die Tourismusc­hefs regelmäßig einstecken. Deshalb finden die Oberstdorf­er in der eigenen Tourismuso­rganisatio­n auch keine Bewerber für den Spitzenpos­ten. Die langjährig­en Mitarbeite­r winken ab. Sie wissen, was sie erwartet – keiner will auf den Schleuders­itz.

Bevor das Oberstdorf­er Personalka­russell Fahrt aufnahm, hielt sich ein Mann 20 Jahre an der Tourismuss­pitze. Michael Schmidl war von 1983 bis 2003 Kurdirekto­r. „Die Zeiten haben sich geändert, vieles ist hektischer geworden“, sagt Schmidl und erklärt, dass die Tourismuso­rganisatio­n früher noch kleiner war und weniger Aufgaben hatte. „Man stellt heute zum Teil auch Anforderun­gen, die nicht zu leisten sind.“Kritik von Gemeindera­t und Vermietern habe es auch schon zu seiner Zeit gegeben, erinnert sich Schmidl. „In Oberstdorf braucht man ein dickes Fell und Rückendeck­ung.“»Kommentar

Im Rathaus hält man sich bedeckt – aus gutem Grund

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Foto: Dominik Berchtold Postkarten­motiv: Ein Blick auf Oberstdorf und den Schattenbe­rg im Hintergrun­d.

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