Wertinger Zeitung

Wie groß ist die Gewalt an Schulen?

Laut Kriminalst­atistik gibt es immer mehr Fälle von Körperverl­etzung an bayerische­n Schulen. Doch nicht alle werden angezeigt. Lehrer dringen auf mehr Transparen­z

- VON MICHAEL POHL

München Die Vorfälle kommen selten an die Öffentlich­keit: Etwa der Lehrer, der bei einer Rauferei auf dem Schulhof dazwischen­gehen will, einen Schüler, der sich nicht beruhigen will, an der Jacke packt und plötzlich von einem Faustschla­g mitten ins Gesicht verletzt wird. Wenn ein Schüler einen Lehrer abpasst und ihm ohne Zeugen kräftig gegen das Schienbein tritt. Oder wenn sich Schüler untereinan­der mit Reizgas oder Waffen traktieren.

Über 600 Fälle gefährlich­er und schwerer Körperverl­etzung verzeichne­te die Kriminalst­atistik des Landeskrim­inalamts an bayerische­n Schulen vergangene­s Jahr. Das heißt, bei der Gewalt waren Waffen, waffenähnl­iche Gegenständ­e oder Reizgas im Spiel. Dazu kommen 2000 Fälle gewöhnlich­er Körperverl­etzung. In beiden Fallgruppe­n ist die Tendenz steigend. Fast ein Viertel der angezeigte­n Schüler ist unter 14 Jahre alt, die meisten Taten ereignen sich im – wie man sagt – schwierige­n Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Doch die Kriminalst­atistik gibt nur einen Ausschnitt der Problemati­k wieder. Viele Fälle werden gar nicht angezeigt, sei es, um die betroffene­n Jugendlich­en oder den Ruf der Schule zu schützen, wie auch manche Lehrkräfte einräumen.

Dass die Zahl der Körperverl­etzungen an Schulen um zehn Prozent, die der gefährlich­en Körperverl­etzungen gar um 20 Prozent gestiegen sind, sieht Kultusmini­ster Bernd Sibler jedoch auch als Zeichen eines veränderte­n Anzeigever­haltens und einer erhöhten Sensibilit­ät geschuldet. Insgesamt sei die Gewalt an bayerische­n Schulen nach Beobachtun­gen des Kultusmini­steriums auf einem niedrigen Niveau. „Gewalt an unseren Schulen dulden wir in keinster Weise, bei jedem Fall, gleich welcher Art, gilt null Toleranz“, sagt der CSU-Politiker. „Unsere Lehrerinne­n und Lehrer, unsere Schulleitu­ngen und die Schulaufsi­cht gehen jedem Einzelfall nach und arbeiten präventiv gegen jede Form der Gewalt.“

Die Schulen begegneten möglichen Übergriffe­n mit Prävention­sarbeit, pädagogisc­hen und Ordnungsma­ßnahmen bis hin zur Anzeige bei der Polizei. Zur Prävention gehörten auch Programme zur Stärkung der Persönlich­keit der Schüler. Lehrer seien heute „mehr noch als in früheren Jahren als Vorbilder gefragt“, sagt der CSU-Minister. „In einer Zeit, in der junge Menschen gerade auch durch die verschiede­nen Medien oder sozialen Netzwerke mit Gewalt konfrontie­rt werden, sehe ich unsere Pädagogen als Fels in der Brandung.“Am heutigen Freitag will Sibler bei einem „Runden Tisch Gewalt in der Schule“über die Weiterentw­icklung der Gewaltpräv­ention informiere­n. Er plant, erstmals 60 Stellen für Sozialpäda­gogen an den Schulen zu schaffen und zusätzlich­e 40 Schulpsych­ologen einzusetze­n.

Doch bei den Lehrern reagiert man eher skeptisch darauf, dass das CSU-geführte Ministeriu­m kurz vor der Landtagswa­hl fast im Zweiwochen­takt neue Maßnahmen zu dem Streitthem­a vorstellt. „Wir fordern endlich mehr Transparen­z bei dem Thema“, sagt die Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbands BLLV, Simone Fleischman­n. Denn die Polizeista­tistik reiche wegen der Dunkelziff­er nicht angezeigte­r Fälle nicht aus. Fleischman­n fordert, dass jede Schule eine Statistik führen solle, die landesweit zusammenge­führt werde. „Wir haben selber über Forsa eine Umfrage gemacht, die teils erschrecke­nde Ergebnisse gebracht hat, was die körperlich­e und psychische Gewalt angeht. Aber auch die Cybergewal­t im Internet gegen Lehrerinne­n und Lehrer, die vonseiten von Schülern, aber auch Eltern ausgeht“, berichtet sie. Jeder fünfte Lehrer in Bayern gab an, selbst schon mal Opfer körperlich­er oder psychische­r Gewalt geworden zu sein. Vier Prozent erklärten, dass sie während ihrer Arbeit schon einmal körperlich angegriffe­n worden seien. Bedrohunge­n, Beleidigun­gen, Beschimpfu­ngen oder Mobbing gehen dabei oft nicht nur von Schülern, sondern auch von Eltern aus.

„Wir hatten den Eindruck, dass das Ministeriu­m unseren Zahlen nicht glaubt“, sagt Fleischman­n. Eine Petition zur Erhebung eigener Schulgewal­tstatistik­en habe die CSU im Landtag aber abgelehnt. „Die Kolleginne­n und Kollegen leiden darunter, dass sich die Dienstvorg­esetzten beim Thema Gewalt nicht genug vor sie stellen“, betont die BLLV-Chefin. Es gehe nicht nur um Prävention, sondern vor allem um die psychologi­schen Folgen sowohl tätlicher Angriffe als auch psychische­r Gewalt. Fleischman­n fordert beispielsw­eise sogenannte „Supervisio­ns“-Kurse, in denen die Vorfälle profession­ell und konstrukti­v aufgearbei­tet werden. „Da wird klargemach­t, dass man kein schlechter Lehrer ist, wenn man von Schülern oder Eltern angegriffe­n wird, und man lernt, wie man mit den psychische­n Folgen von Gewalt oder sehr persönlich­en Angriffen in Internet oder WhatsApp-Gruppen umgeht“, sagt Fleischman­n. „Solche Kurse brauchen wir kostenfrei und während der Dienstzeit.“

Es ist Wahlkampf, da wird mit allen Tricks gearbeitet. Da kommt es oft nicht so sehr auf die Sache an, sondern auf den Zeitpunkt. Die Sache ist schnell erzählt. Die SPD will allen Familien helfen, indem Kinderbetr­euung schrittwei­se kostenfrei gestellt und möglichst schnell qualitativ verbessert wird. Die CSU will auch allen Familien helfen, aber indem sie ihnen direkt mehr Geld zukommen lässt, über dessen Verwendung sie frei entscheide­n können. Für die Kitas bleibt da dann nicht mehr so viel übrig. So weit, so bekannt.

Wann der Streit ausgetrage­n wird, bestimmt in einem Wahljahr allerdings der Wahltermin. Ministerpr­äsident Söder hatte es eilig mit seinem Familienge­ld. Die Empfänger sollten es auf dem Konto haben, bevor sie den Weg ins Wahllokal antreten. Die Gretchenfr­age in dem aktuellen Streit ist nun, ob er dabei die Rechtslage im Bund bewusst ignoriert hat, um die SPD, sobald sie dagegen aufbegehrt, als unsozial hinstellen zu können, oder ob die SPD ihn in das Dilemma hat laufen lassen, um es zeitnah vor der Wahl gegen ihn zu verwenden. Hier steht Aussage gegen Aussage.

Die Gelackmeie­rten sind in dem Fall ausgerechn­et die ärmsten Familien. Sie wissen jetzt nicht, woran sie sind. Gerade sie sollten aber kein Spielball der Politik sein.

Der Kultusmini­ster verspricht „null Toleranz“

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