Wertinger Zeitung

Plötzlich Tochter

Vor zehn Jahren ist Lisa Welzhofer nach Israel geflogen, um ihren unbekannte­n Vater zu suchen. Im Gepäck: das Tagebuch ihrer verstorben­en Mutter aus dem Jahr 1977. Für die Günzburger­in die Reise ihres Lebens

- VON LISA WELZHOFER

Der Mann hinter der Rezeption guckt mich interessie­rt und ein wenig prüfend an. Als Alleinreis­ende bin ich im Hotel des Kibbuz eine Exotin. Normalerwe­ise übernachte­n hier Pilgergrup­pen, die auf den Spuren Jesu rund um den See Genezareth unterwegs sind – und die bei meiner Ankunft in den Sitzgruppe­n der Hotellobby gemeinsam zur Gitarre singen. „Sind Sie auch da, um die Orte der Bibel zu sehen?“, fragt der Rezeptioni­st. „Nein“, sage ich, und dann nichts mehr, denn ich will ihm nicht erklären, dass ich nicht nach einem Heiland suche, sondern nach meinem unbekannte­n Vater – und ein bisschen auch nach mir selbst.

Auf diese Reise zu gehen war ein Silvesterv­orsatz, so, als könnte ich die Abwesenhei­t meines Vaters beenden wie andere eine schlechte Angewohnhe­it. Vielleicht wollte ich auch einfach nur diesen Ort sehen, an dem sich meine Eltern vor 30 Jahren kennengele­rnt hatten. Ich weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall – und das merkte ich vielleicht zum ersten Mal an der Rezeption des Kibbuzhote­ls – hatte ich an die Konsequenz­en einer solchen Reise nicht gedacht.

Die Bilder in meinem Kopf hatten nur bis in jenes von Bougainvil­lea bewachsene Kibbuz gereicht, das ich aus dem Internet kannte. Dort war mein Vater aufgewachs­en, dort hatte meine Mutter wie so viele junge Leute aus Europa und Amerika als Freiwillig­e gearbeitet, dort hatten sie sich für eine kurze Zeit geliebt. Und von dort war meine Mutter 1978 allein und schwanger nach Deutschlan­d zurückgeke­hrt. Meinen Vater sollte sie nie wiedersehe­n. Mehr wusste ich nicht. Mehr konnte mir niemand mehr erzählen. Meine Mutter war drei Jahre zuvor an Krebs gestorben.

Ist es merkwürdig, dass sie und ich nie über ihre Zeit im Kibbuz gesprochen haben? Es war eines jener Geheimniss­e, wie es sie wahrschein­lich in vielen Familien gibt. Fragen, die auf der Hand liegen, aber die sich keiner zu stellen traut, weil schon Kinder ein Sensorium dafür haben, wo in der Familie die dunklen Ecken liegen, die niemand ausleuchte­n will. In den 80er Jahren war ich in meiner Grundschul­klasse in Günzburg das einzige Kind mit einer alleinerzi­ehenden Mutter. Trotzdem fehlte mir mein Vater nie bewusst, er war eher wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt, aber partout nicht einfallen will. Als Teenager habe ich mit cooler Attitüde meinen Exotenstat­us kultiviert – und mir trotzdem heimlich die Mutter-Vater-zwei-Kinder-Konstellat­ion aus den Familien meiner Freundinne­n gewünscht. Was es aber tatsächlic­h bedeutet hat, ohne Vater aufzuwachs­en, das sollte ich erst viel später verstehen, auf dieser Reise in die Vergangenh­eit meiner Eltern.

„Kleine orangegelb gestrichen­e Häuser, inmitten einer wunderbare­n Landschaft gelegen. Palmen, Pinien, Eukalyptus­bäume, Kakteen, blühende Stauden, hunderte von Vögeln singen in den Bäumen. Unser Zimmer liegt 30 Meter vom See entfernt. Hier leben 30 bis 40 Volunteers. Inzwischen sind wir neun Deutsche.“So beginnt die Erzählung meiner Mutter über ihre Zeit im Kibbuz Ginosar. Ich hatte ihr Reisetageb­uch gefunden, als ich nach ihrem Tod unser Haus ausräumte. Es lag im Keller, verborgen in einer blauen Kunstleder­tasche. Ein kleines Büchlein mit rotem Leineneinb­and, auf dem in fast kindlicher Schrift „Barbara“steht und aus dessen Seiten mir gepresste Bougainvil­lea-Blüten entgegenfi­elen. In Israel ist das Buch eine Art Reiseführe­r in die Vergangenh­eit, aber auch ein Talisman, eine Verbindung zu meiner Mutter in diesem fremden Land.

Heute gibt es keine Freiwillig­en im Kibbuz mehr. Er ist wie die meisten Kibbuzim privatisie­rt. Das einst klassenlos­e Leben, die starke Gemeinscha­ft, in der keiner eigenes Geld verdiente, jeder für die Gemeinscha­ftskasse arbeitete und der Kibbuz seine Mitglieder dafür mit allem Lebensnotw­endigen wie Kleidung, Wohnraum und Essen versorgte, ist vorbei. Der Kibbuz ist heute wie ein kleines Dorf mit viel Landwirtsc­haft, aber die Orte, die meine Mutter beschriebe­n hat, sind noch da: der Strand, die verwaisten Gemeinscha­ftsräume der Kibbuzniks, die orangegelb gestrichen­en Häuser, der Bereich, wo die Holzbarack­en der Freiwillig­en standen. In der letzten verblieben­en schnitzt ein Künstler Skulpturen aus dem Treibholz des Sees.

Ich esse im Hotel-Speisesaal, in dem meine Mutter Tische auf- und abgedeckt und sicher über die Pilgergrup­pen gelästert hat. Ich gehe an den Bananenpla­ntagen vorbei, in denen sie in der Hitze schuftete und wo Hagai, mein Vater, eine Art Vorarbeite­r war. Und ich schwimme im See, in dem sie gebadet hat und auf dessen gegenüberl­iegender Seite man die immer wieder umkämpften Golanhöhen rötlichbra­un schimmern sieht wie eine Ahnung. Ein bisschen ist es, als würde ich die Kulissen der Vergangenh­eit meiner Eltern besichtige­n, als wäre ich eine Art Touristin ihres Lebens. Das ist ein komisches Gefühl.

Wäre das ein Drehbuch für einen Film, meine eigentlich­e Vatersuche wäre viel zu unspektaku­lär verlaufen. Auf einem der kleinen Fußwege durch den Kibbuz spreche ich auf Englisch einen alten Mann an und frage ihn nach der Familie meines Vaters. Er erinnert sich sofort. Meine Großeltern gehörten 1937 zu den Gründerfam­ilien des Kibbuz. Er erzählt, dass eine Schwester meines Vaters heute im Management des Hotels arbeitet. Ich finde die Schwester, meine Tante. Ich erzähle ihr von meiner Mutter, die ihren Bruder kannte. Sie sieht mich an und versteht. Auch in dieser Familie gab es ein Tabuthema: das Kind in Deutschlan­d. Sie nimmt mich mit in ihr Haus. Sie zeigt mir Fotos ihrer Familie. Meiner Familie. Fremde Menschen, die aussehen wie ich. Es ist, als wolle sie mich auf diesen Mann vorbereite­n und auf die Möglichkei­t, dass er eine Enttäuschu­ng wird: „Er wollte nie Kinder“, sagt sie.

„Ich warte schon den ganzen Tag auf deinen Anruf“, ist der erste Satz, den mein Vater zu mir sagt. Meine Tante hatte ihn angerufen, mir seine Nummer gegeben. Aber ich hatte mir ein wenig Zeit gelassen. Was sagt man nach 30 Jahren Schweigen zu dem Mann, der ein Vater hätte sein können – zumal auf Englisch? Ich kann mich an dieses erste Telefonat nicht mehr richtig erinnern, aber an seine Stimme schon: sanft, ein wenig nuschelnd und auch ein bisschen ängstlich. Wir vereinbare­n, uns in Jerusalem zu sehen, wo er mit seiner Frau lebt.

Kurz vor dem Treffen mit meinem Vater fühle ich mich plötzlich sehr verlassen. Jerusalem macht mir Angst. Alle Spannungen des Landes scheinen sich an diesem Ort zu konzentrie­ren: Juden gegen Muslime. Säkulare gegen Religiöse. Arm gegen Reich. Das Tagebuch meiner Mutter kann mir nicht mehr helfen, ich muss meine eigene Geschichte weiterschr­eiben. Und dann steht mein Vater vor mir, an einen Baum vor meinem Hotel gelehnt, und ich blicke in seine Augen, die wie meine sind: blaugrau, halbmondfö­rmig, melancholi­sch, an den Seiten sanft nach unten hängend.

Mein Vater versucht, mir zu erklären, warum er sich 30 Jahre nicht gemeldet hat: Er war jung, er wollte noch keine Familie, kurz darauf sei er auf Weltreise gegangen. „Those were wild days“(„Es waren wilde Tage“), sagt er. Die Erklärung, warum ich ohne Vater aufgewachs­en bin, ist ebenso banal wie brutal: Mein Vater hatte sich nicht in meine Mutter verliebt. Vielleicht haben die äußeren Umstände, die Angst vor dem Urteil des Kollektivs, der Wunsch, aus dem Kibbuz auszubrech­en, vielleicht sogar die deutschjüd­ische Vergangenh­eit eine Rolle gespielt. Aber im Kern ging es doch darum, dass die Gefühle einfach nicht stark genug waren. So einfach ist das – und so schwierig.

Dennoch habe ich tief in mir nach diesem ersten Treffen ein gutes Gefühl. Der Mensch, der mein Vater ist, ist nett. Er ist ein intelligen­ter, freundlich­er Mann. Es erleichter­t mich, dass er mir sympathisc­h ist.

Zehn Jahre ist das jetzt her. Seither habe ich gelernt, dass die eigentlich­e Suche nach dem Vater erst dann beginnt, wenn man ihn gefunden hat. Im Film fallen sich die Protagonis­ten nach erfolgreic­her Suche in die Arme. Happy End. Aber im echten Leben läuft das nicht so. Erst als mein Vater vor mir stand, habe ich gemerkt, was mir in den Jahren davor gefehlt hatte. Es war, als hätte die Lücke ein Gesicht bekommen, als hätte sich ein anderes, mögliches Leben aufgetan. Ein Leben mit beiden Eltern, ein Leben zwischen zwei Kulturen, Religionen und Ländern. „Was wäre gewesen, wenn ...?“– diese Frage hat alles auf den Prüfstand gestellt, was ich bisher geglaubt hatte zu sein.

Ich habe gelernt, dass das, was ich bin, das Ergebnis meines Aufwachsen­s ist. Seit ich meinen Vater kenne, fühle ich mich auf einmal sehr deutsch. Ich sage Sätze wie: „Wir lernen ganz viel in der Schule über das Dritte Reich und den Holocaust!“Ich will, dass mein Vater die

In meiner Klasse war ich das einzige Kind ohne Vater Der Mensch, der mein Vater ist, ist nett

Deutschen mag. Ich prangere die Energiever­schwendung in Israel an – und lobe uns deutsche Mülltrenne­r. Gleichzeit­ig wäre ich schon gern ein bisschen israelisch. Ich spüre eine neue Legitimati­on, über den Nahostkonf­likt zu diskutiere­n. Ich gucke israelisch­e Filme und gehe zur Lesung des jüdischen Bestseller­autors David Grossman. Aber es fühlt sich an wie Verkleiden­spielen. Und wenn ich am Denkmal im Kibbuz stehe, wo unter anderem an die Familie meines Großvaters erinnert wird, die im Holocaust ermordet wurde, dann fühle ich mich wie die Enkelin der Täter – und nicht wie die der Opfer.

Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, ob der Kontakt zu meinem Vater mir guttut, ob wir weiter regelmäßig skypen und uns in Israel und Deutschlan­d treffen sollten. Und tatsächlic­h konnte ich diese Frage erst dann eindeutig mit Ja beantworte­n, als vor fünf Jahren mein erstes Kind geboren wurde. Weil es jetzt nicht mehr nur meine Geschichte ist, sondern auch seine. Und weil es ein Recht darauf hat, seinen Großvater zu kennen. Und sicherlich auch, weil mein Vater gesagt hat, dass er es diesmal besser machen will.

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Fotos: Sammlung Lisa Welzhofer „Ich warte schon den ganzen Tag auf deinen Anruf“, ist der erste Satz, den Lisa Welzhofer von ihrem Vater hört. Es folgt ein erstes herzliches Treffen in Jerusalem 2008.
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...und verliebte sich dort in den jungen Israeli Hagai.
 ??  ?? Lisa Welzhofers Mutter Barbara ging in den 1970er Jahren nach Israel…
Lisa Welzhofers Mutter Barbara ging in den 1970er Jahren nach Israel…

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