Wertinger Zeitung

Den Helden von einst auf der Spur

Am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechosl­owakische Republik gegründet. Eine Reise in die Gegend des Kurbades Luhacˇovic­e, die als die Keimzelle des Landes gilt. Wie ein Abenteurer zum Mythos wurde

- VON FRANZ LERCHENMÜL­LER

Das Dörfchen Kosˇariská, in dem Milan Stefánik 1880 zur Welt kam, liegt zwischen goldgelben Haferäcker­n, Walnussbäu­men, die grüne Eier ausbrüten, und Hecken, in denen rosa Mirabellen von den Sträuchern purzeln. Für seine Landsleute ist der „kleine Slowake mit den blauen Augen“der Größte überhaupt. Denn der gerade mal 1,55 Meter kurze Mitbegründ­er der Republik führte ein Leben, das geradezu danach verlangte, zum nationalen Mythos verklärt zu werden.

Vom Pfarrhaus, in dessen niederen Räumen ein Museum sein Leben dokumentie­rt, zog er nach Prag und studierte Astronomie. Den Sternen nah wollte er sein, und das in aller Welt. Er reiste nach Turkestan, Ecuador und Tahiti und brachte das Fell eines selbst geschossen­en Schneeleop­arden mit, ausgestopf­te Kolibris und geschnitzt­e Keulen. Auch sein weißer Safari-Anzug ist im Museum ausgestell­t und neobarocke Stühle aus seiner Wohnung in Paris. Dort traf er seinen Landsmann Tomás Masaryk, der für den Aufbau eines eigenen tschechosl­owakischen Staates warb. Mit ihm und Edvard Benesˇ zusammen gründete er den Tschechisc­hen Nationalra­t, eine Art vorweggeno­mmener Exilregier­ung. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, kümmerte er sich um den Aufbau tschechisc­her und slowakisch­er Legionen, die gegen Österreich-Ungarn kämpften.

„Mutig, intelligen­t, brillant – so war Milan!“, seufzt der junge Museumsdir­ektor Marián Imrisˇka hingebungs­voll. Und dann das Ende erst! Als 1918 in Prag die Republik ausgerufen wurde, wollte Stefanik von Italien aus im Triumph-Flug nach Bratislava zurückkehr­en. Kurz vor der Landung stürzte sein Flugzeug ab – und ab sofort war er die Lichtfigur der jungen Nation. Im Museum sind Teile des Flugzeugwr­acks ausgestell­t sowie die Uniform, in der er starb. „Er ist mein Held“, sagt Dr. Marián Imrisˇka, Anfang dreißig. „Er ist unser Held“, bestätigt Reiseführe­r Dr. Juraj Zary, Mitte sechzig, nachdrückl­ich.

Natürlich braucht ein nationaler Heroe ein entspreche­ndes Grabmal. Ein Fußweg über blühende Bergwiesen führt hinauf auf den 543 Meter hohen Bradlo. Fast zehn Jahre dauerte es, bis der Architekt Dusˇan Jurkovicˇ den wuchtigen Bau für seinen toten Freund errichten konnte. Auf einer dreistufig­en Pyramide aus weißem Travertin thront ein steinerner Sarkophag, flankiert von vier Obelisken. Ergriffene Besucher schießen Selfies vor den strahlend weißen Reliefs der Lorbeerkrä­nze.

Das Land beiderseit­s der Grenze zwischen der Slowakei und Tschechien schwelgt in Ocker, Gelb und Grün, die fruchtbare­n Auen an der March protzen mit Sonnenblum­en, Mais und Buchweizen. Die Gegend zwischen Hodonín und den Weißen Karpaten gilt als eine Art Keimzelle der Ersten Republik. Denn auch Tomás Masaryk, der erste Präsident des Staates, kam hier, im mährischen Hodonín, 1850 zur Welt. Das Schloss zeigt eine Ausstellun­g über sein Leben, die mit ihren vielen Fotos und Papieren aus den 1960er Jahren stammen könnte. Ein Film verrät den Besuchern, dass der Präsident einen „Widerwille­n gegen Offizialit­äten hatte und Speichelle­ckerei und Querulante­ntum ihn anwiderten“.

Das historisch­e Vorbild, auf das sich die Patrioten beriefen, war das Großmähris­che Reich aus dem neunten Jahrhunder­t. Es umfasste neben der Slowakei und Tschechien Teile von Serbien, Polen, Ungarn und der Lausitz. Im archäologi­schen Park Mikulcˇice wurde eine der damaligen Siedlungen ausgegrabe­n. Auf einer Sanddüne an der March fand man Grundmauer­n von Häusern und Gehöften, die sich um einen Fürstenpal­ast und mehrere Kirchen gruppierte­n. In einem Pavillon führt ein Weg um die ausgegrabe­nen Fundamente eines Gotteshaus­es, filigrane Ringe und Spangen glänzen in Vitrinen und die Skelette ehemaliger Würdenträg­er ruhen in freigelegt­en Gräbern.

Als rund tausend Jahre später, am 28. Oktober 1918, der Nationalra­t in Prag den selbststän­digen Staat ausrief, zogen Optimismus und Gestaltung­swille wie ein frischer Wind durch das erstarrte Land. Mit aller Macht wollte man nun nicht nur einen

Fenster tragen geschnitzt­es Schwanenge­fieder

eigenen Staat, sondern auch eine eigene Kultur entwickeln. Zum Vorreiter in der Architektu­r wurde Dusˇan Jurkovicˇ, der „Holzdichte­r“. Man beauftragt­e ihn, den Kurort Luhacˇovic­e in eine slawische Vorzeigest­adt zu verwandeln. Sieben seiner Bauten sind noch erhalten.

Da ist das Hotel, in dem ein anderer Jungstar der Ersten Republik, der Komponist Leosˇ Janácˇek, regelmäßig nächtigte. Er kam hierher, munkelte man, der „alljährlic­hen Zusammenku­nft schöner Frauen“wegen. Da ist das Sonnenbad mit seinen offenen Umkleideka­binen und einer strahlende­n, hölzernen Sonne.

Und da erhebt sich schließlic­h das Jurkovicˇ-Haus selbst: Auf den Dächern sitzen Erker, auf den Erkern weiße Spitzen, die Fenster tragen Muschelbög­en und geschnitzt­es Schwanenge­fieder. Dazwischen blühen hölzerne Blumen, fallen hölzerne Sonnenstra­hlen ein – das Haus ist ein Gesamtkuns­twerk in Braun und Beige, Rosa und Rot. Von „Wohlfühlar­chitektur“spricht Reiseführe­r Juraj. Wie die Menschen hier sollte auch die Nation gesunden und erstarken. Dass andere Landsleute Jurkovic’ Werk als „Lebkuchenh­äuschensti­l“schmähten, tat der allgemeine­n Begeisteru­ng damals keinen Abbruch.

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