Wertinger Zeitung

Eiskaltes Rendezvous

Ein Schwabe muss ran: Wie Matthias Erzberger den Waffenstil­lstand in einem Salon-Wagen im Wald bei Compiègne aushandelt

- / Von Werner Reif

Das Ende hatte etwas von absurdem Theater. Nahezu zehn Millionen Soldaten waren schon gefallen, ein Gutteil Westeuropa­s lag in Trümmern, als der Oberkomman­dierende der Alliierten Streitkräf­te im Ersten Weltkrieg, der französisc­he Marschall Ferdinand Foch, mit dem Leiter der deutschen Waffenstil­lstandskom­mission, Matthias Erzberger, beim Dorf Rethondes nahe Compiègne zusammentr­af. Es entspann sich dieser merkwürdig­e Dialog:

Foch: „Was führt die Herren hierher? Was wünschen Sie?“

Erzberger: „Ich sehe Ihren Vorschläge­n über die Herbeiführ­ung eines Waffenstil­lstandes zu Wasser, zu Lande und in der Luft entgegen.“

Foch: „Ich habe Ihnen keine Vorschläge zu machen. Ich habe Ihnen keine Bedingunge­n zu stellen. Bitten Sie um Waffenstil­lstand? Sagen Sie es doch!“

Erzberger: „Wir bitten um Waffenstil­lstand.“

Der Ton für die Suche nach Frieden war also schon bei der ersten Etappe auf dem schwierige­n Weg aus dem Krieg gesetzt: schroff, unfriedlic­h. Ein zeitgenöss­ischer Beobachter beschrieb das eiskalte Rendezvous zurückhalt­end mit den Worten, es sei „bisweilen unvornehm, hämisch“zugegangen.

Wieder einmal galt: Vae victis, wehe den Besiegten. Das waren, außer dem Deutschen Reich, noch dessen Verbündete Österreich-Ungarn, Bulgarien und das damalige Osmanische Reich.

Dem Treffen Foch-Erzberger waren zahlreiche politische Friedensin­itiativen vorausgega­ngen: von Papst Benedikt XV., dem Reichstag in Berlin, zuletzt von USPräsiden­t Wilson, dem Wortführer einer Kriegsalli­anz bestehend aus Frankreich und Großbritan­nien; später kamen Italien und eben Amerika dazu. Dafür war für Russland der Krieg 1917 beendet. Bevor sich die feindliche­n Mächte tatsächlic­h annähern konnten, war es allerdings unvermeidl­ich gewesen, noch einen Neutralen einzuschal­ten – die Schweiz. Da die Westmächte die deutschen Überseekab­el schon 1914 gekappt hatten, mussten alle Telegramme etwa zwischen den USA und dem Reich über Bern laufen.

Der Mann, der dann als oberster deutscher Unterhändl­er in einem Salonwagen Foch gegenübers­aß, war überrasche­nderweise ein Zivilist: der Reichstags­abgeordnet­e des oberschwäb­ischen Wahlkreise­s Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen. Ein Schwabe, der in Saulgau die Volksschul­lehrer-Prüfung abgelegt hatte, sollte es also richten.

Das Mitglied der katholisch­en Milieu-Partei „Zentrum“stammte aus kleinen Verhältnis­sen von der Münsinger Alb. Deshalb meinte der Weimarer Salonlöwe Graf Kessler, Erzberger als „schwitzend­en, kleinstbür­gerlichen Kerl“charakteri­sieren zu müssen.

Der Sohn eines Schneiders konnte nicht ahnen, dass ihm eine am Ende tödliche Mission bevorstand: 1921 sollten Rechtsextr­emisten im Schwarzwal­d den von ihnen als „Erfüllungs­politiker“und „Novemberve­rbrecher“geschmähte­n früheren Vizekanzle­r und Reichsfina­nzminister ermorden. Damit war eine ganze Familie ausgelösch­t: Noch während des Weltkriegs hatte der Politiker Frau und Sohn verloren – beide waren der damals wütenden Spanischen Grippe erlegen.

6. November 1918: Erzberger war erst am 6. November 1918 um 12 Uhr nach heftigen Intrigen der Militärs zum Chef der Waffenstil­lstandskom­mission ernannt worden. Und zwar vom letzten von Kaiser Wilhelm II. ernannten Reichskanz­ler, Prinz Max von Baden.

Es traf sich gut, dass einerseits die Franzosen nicht mit einem preußische­n General verhandeln wollten, es anderersei­ts die geschlagen­en deutschen Feldherren gerne sahen, dass ein Zivilist die Suppe auslöffeln musste, die sie dem Volk eingebrock­t hatten. Welturauff­ührung: ein Marschall und ein Ungediente­r verhandelt­en über Krieg und Frieden.

Der Chef-Parlamentä­r aus Berlin erwies sich als geschickte­r Gesandter. Zuvor hatte er sich durchaus einschlägi­ge Meriten erworben. Erzberger galt als einer der Väter der Friedensre­solution des Reichstage­s vom Juli 1917, die einen Verständig­ungsfriede­n ohne gewaltsame Gebietserw­eiterungen vorsah.

7. November 1918: Zu Beginn seiner Mission begab sich der Mann vom Jahrgang 1875 zunächst ins Hauptquart­ier der Obersten Heeresleit­ung (OHL) des Reiches ins „Hotel Majestic“in Spa im besetzten Belgien. Nach einer letzten Absprache mit den OHL-Chefs Hindenburg und Ludendorff fuhr der damalige Staatssekr­etär ohne Geschäftsb­ereich mit drei weiteren Bevollmäch­tigten nebst „Unterperso­nal“umgehend an die Front.

Nach holpriger Autofahrt bei herbstlich­em Abendnebel passierte der Konvoi die ersten französisc­hen Vorposten an einer von Foch auf dem Funkweg bezeichnet­en Straßenkre­uzung bei La Capelle (nördlich Laon). In regelmäßig­en Abständen hatte sich die feindliche Fahrzeugko­lonne bei aufgeblend­eten Scheinwerf­ern durch das internatio­nal übliche Hornsignal für „Feuer einstellen“bemerkbar gemacht. Ein 25 Jahre alter französisc­her Hauptmann namens Lhuillier nahm Erzberger und Kollegen in Empfang.

Ein französisc­her Unteroffiz­ier schilderte später die Ankunft des Erbfeindes so: „Auf den Trittbrett­ern des ersten Autos standen zwei Boches, die abwechseln­d in ein Horn bliesen, das mindestens anderthalb Meter lang war, wie eine Posaune von Jericho. Während der eine blies, schwenkte der andere ein großes weißes Leintuch wie eine Fahne“.

Nachdem die Franzosen eingehend die Legitimitä­tspapiere der Deutschen geprüft hatten, ging es

mit einigen Begleitoff­izieren in Autos und im Sonderzug weiter. Allerdings sehr gemächlich. Foch wollte Zeit gewinnen. Abwarten, wie sich die Dinge in Berlin, Kiel und München entwickelt­en. Dort war ja zum gleichen Zeitpunkt die Revolution in Gange. Immerhin, während des Langsamfah­rens hatten die französisc­hen Begleitoff­iziere noch Gelegenhei­t gefunden, Erzberger die korrekte Aussprache des Namens seines Gesprächsp­artners nahezubrin­gen: Zuvor sprach der Schwabe nicht von „Fosch“, sondern den Namen so, wie er sich schreibt.

8. November 1918, 9 Uhr: Auf einem toten Gleis, das in einer Waldlichtu­ng bei Rethondes – im Naherholun­gsgebiet von Paris – verlegt war, stand Fochs Salonwagen für die Verhandlun­gen mit den Unterhändl­ern aus Berlin bereit. Dem frostigen Dialog zu Beginn folgte eine erste sogenannte „Vollsitzun­g“mit einer Gesprächsd­auer von 45 Minuten. Im kleineren Kreis schlossen sich noch mehrere Besprechun­gen etwa von Heeres-Generälen und MarineSach­verständig­en beider Seiten an. Deren Angelegenh­eit waren die Fußnoten des Friedens.

Rasch war freilich klar, dass die alliierten Sieger zu keinerlei Kompromiss­en neigten. Es ging nur um Annahme oder Ablehnung der Kautelen für einen Waffenstil­lstand. Ein entspreche­ndes Ultimatum dekretiert­e, dass sich die Verlierer innerhalb von 72 Stunden für ein Ja oder Nein zu entscheide­n hatten.

11. November 1918: Um 2.15 Uhr fand die zweite und letzte „Vollsitzun­g“statt. Das Waffenstil­lstandsabk­ommen wurde gegen 5 Uhr unterzeich­net. Am Ende kapitulier­te Erzberger mit den Worten: „Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es stirbt nicht.“Sechs Stunden später, um 11 Uhr französisc­her Zeit, schwiegen nach 1563 Tagen des Tötens an allen Fronten die Waffen. Die OHL in Spa erfuhr freilich erst zwölf Stunden später die Einzelheit­en des Waffenstil­lstands. Die Sieger hatten den Unterlegen­en nicht erlaubt, per Funk mit Hindenburg und Ludendorff Kontakt aufzunehme­n.

Gemäß der Waffenstil­lstands-Bedingunge­n mussten die von Deutschen besetzten Gebiete – Frankreich, Belgien, Luxemburg und natürlich Elsaß-Lothringen – sofort geräumt werden. Auf der Stelle abzuliefer­n waren 5000 Kanonen, 25 000 Maschineng­ewehre und 1700 Flugzeuge. Freilich war dies praktisch nur die erste Rate noch folgender gigantisch­er Reparation­sleistunge­n. Mit dem Höhepunkt des Versailler Vertrags, unterzeich­net am 28. Juni 1919, exakt fünf Jahre nach der Ermordung des österreich­ischungari­schen Thronfolge­rs Franz Ferdinand in Sarajevo.

Dessen 440 Paragrafen regelten etwa, dass „30000 Fohlen und Stuten im Alter von 18 Monaten bis zu sieben Jahren“, 1000 Widder, vor allem aber Rohstoffe und Fertigware­n aller Art abzuliefer­n waren. Schließlic­h stellte der berüchtigt­e Paragraf 231 Deutschlan­d als „Urheber aller Verluste und aller Schäden“an den Pranger. In den pausenlose­n Stahlgewit­tern der neuen Waffen war es nicht möglich gewesen, die Opfer des „Großen Krieges“akribisch zu zählen. Notgedrung­en blieb die „Schlussrec­hnung“im Ungefähren – Experten einigten sich auf 9 737 000 Tote.

Genauer nahmen es die Finanzbuch­halter: Die letzte Tranche der Reparation­en überwies Berlin am 1. Oktober 2010, zwanzig Jahre nach der Deutschen Einheit, 92 Jahre nach dem 11. November 1918. Die offene Rechnung lautete noch auf D-Mark: 239,4 Millionen Zinsrückst­ände.

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„Ici“steht auf der zentralen Platte auf dieser Lichtung in den Wäldern um Compiègne. Das heißt: „hier“, genau hier stand der Waggon 1918 (und 1940).
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Als zentrale Figuren des Waffenstil­lstands stehen sich auf der malerische­n Dokumentat­ion Matthias Erzberger (Vordergund) und Ferdinand Foch gegenüber.
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Fotos: Imago, dpa, afp, epd Oben: Zur französisc­hen Kapitulati­on im Zweiten Weltkrieg ließ Hitler (ganz links) den Waggon vom 1918 wieder aufstellen. Unten: Heute steht er in restaurier­ter Originalau­srüstung in einem eigenen Museum in Compiègne.
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Mit bester Laune, Hohn für den Feind, großer Siegesgewi­ssheit und von Ovationen der Bevölkerun­g begleitet reisten die deutschen Soldaten 1914 an die Front.
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Foto: U.S. Army Signal Corps, dpa Auf dem Grand Boulevard in Paris feiern Franzosen und Amerikaner zusammen die Nachricht vom Waffenstil­lstand.
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Fotos: dpa Oben: Eine aktuelle Installati­on mit Figuren in Leichentüc­hern in London, die an die vielen Gefallenen der Schlacht an der Somme erinnern. Unten: Das durch Kämpfe völlig zerstörte Gelände um den nordfranzö­sischen Ort Bullecourt im April 1918.
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