Wertinger Zeitung

Warum das letzte

Die Geschichte von Scapa Flow und einem

- Rainer Bonhorst

Konteradmi­ral Ludwig von Reuter hing fest – fernab seiner deutschen Heimat in einem kargen nordischen Idyll, in dem sich einst die Wikinger tummelten. Selbst was sich dort oben „Mainland“, also Festland nannte, war kein Festland, sondern nur der Hauptfelse­n einer verlorenen Inselgrupp­e. Ringsum gesellten sich Burray, South Ronaldsay, Flotta, Fara, Hoy und Graemsay. All diese nördlich von Schottland gelegenen Orkney-Inseln umgeben ein Gewässer, das Schauplatz eines ungewöhnli­chen Weltkriegs­ereignisse­s war: Scapa Flow. Der Name dieses natürliche­n Hafens steht für den freiwillig­en Untergang eines stolzen Teils der kaiserlich­en Kriegsflot­te.

Ludwig von Reuter war kein ungeduldig­er Mann. Er war Kommandant einer Hochsee-Flotte von 74 Kriegsschi­ffen und durchaus in der Lage, in den Wirren und Gefahren des Ersten Weltkriegs einen kühlen Kopf zu bewahren. Jetzt aber wurde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Der Krieg war im November 1918 zu Ende gegangen und die Herren Sieger und Verlierer hatten sich bei ihren Friedensve­rhandlunge­n in Versailles festgebiss­en. Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen. Der Admiral dümpelte seither auf Befehl der Briten, denen er sich hatte ergeben müssen, mit seinen 74 Schiffen auf den Wellen von Scapa Flow. Er hatte keine Ahnung, wie lange die Unterhändl­er auf dem fernen Festland noch zu reden gedachten. Lange konnte er nicht mehr warten.

Die Briten hatten ihm einen Termin gesetzt, den 21. Juni 1919. Als der Morgen dieses Tages dämmerte, war man in Versailles immer noch nicht fertig. Man lag zwar in den letzten Zügen, aber das wusste Ludwig von Reuter nicht, der dort oben im Nordatlant­ik von solchen Informatio­nen abgeschnit­ten war. Er musste handeln und das tat er auch. Sein ganz persönlich­es Kriegsziel: Seine Schiffe durften nicht in die Hände der Sieger fallen.

Er hatte schon von langer Hand Vorsorge getroffen. Jetzt musste nur noch der Geheimbefe­hl gegeben werden, und die Aktion konnte beginnen. Da die kaiserlich­en Offiziere allesamt ehemalige Korps-Studenten waren, nutzte man ein Code-Wort aus der Welt der Studentenv­erbindunge­n: „Paragraf elf!“Für Kenner war das ein klarer Fall. Paragraf elf des Biercommen­ts deutscher Verbindung­en bedeutete: „Es wird weitergeso­ffen!“Vom Weitersauf­en zum Absaufen war es sprachlich kein weiter Weg.

Und dann öffnete man die Luken. Die Sache dauerte einige Stunden, aber es gelang dem Admiral und seinen Mannen, 15 große Schiffe, fünf kleinere Kreuzer und 32 Torpedo-Boote im Scapa Flow absaufen zu lassen. Die Selbstvers­enkung war ein eindrucksv­oller, aber kein perfekter Erfolg. Als die Briten etwas merkten, konnten sie immerhin noch die SMS Baden, mehrere Kreuzer und ein gutes Dutzend Torpedoboo­te konfiszier­en.

Das ging nicht ohne Gefechte ab. So fielen ein halbes Jahr nach Kriegsende vor der schottisch­en Küste noch neun deutsche Seeleute. Eine letzte Kriegs-Tragödie in einem merkwürdig­en Nachkriegs-Akt. Rund 1700 deutsche Seeleute überlebten und kamen in britische Gefangensc­haft. Der Konteradmi­ral, der seine Schiffe unter den Augen des „Feindes“versenkt hat, wurde nach seiner Rückkehr in die Heimat als Kriegsheld gefeiert und zum Admiral ohne „konter“befördert.

Zurück blieben seine Schiffe, eine ganze Flotte. Das war natürlich eine Attraktion für Glücksritt­er. Ein gewisser Ernest Cox erwarb dann ein paar Jahre später die meisten

Schiffe im Dutzend billiger von der britischen Marine und ging in die Geschichte als der Mann ein, „der eine Kriegsmari­ne kaufte“. Mit großem Aufwand und viel Geld ließ er viele der Schiffe heben. So erblickten die Schlachtkr­euzer Seydlitz, Moltke, Von der Tann und andere Kriegsschi­ffe wieder das Licht der Oberfläche. Dann musste das Rettungsun­ternehmen unterbroch­en werden. Deutschlan­d und England befanden sich mal wieder, diesmal im Zweiten Weltkrieg.

Etliche Schiffe blieben bis heute auf dem Meeresgrun­d und haben dort den ehrenvolle­n Status von „archäologi­schen Monumenten“erreicht. Das bedeutet in der Praxis, dass Taucher sich ihnen nur mit besonderer Sorgfalt nähern dürfen.

Die versunkene­n Restbestän­de sind bis heute eine Attraktion für Einheimisc­he, Touristen und natürlich für Historiker. Die können sich zum Beispiel mit der Frage beschäftig­en, warum die Briten so lange gebraucht haben, bis sie die Selbstvers­enkung dieser großen Flotte bemerkten. Könnte es sein, dass sie es zunächst gar nicht bemerken wollten? Schließlic­h hätte man bei frühzeitig­er Entdeckung und Kaperung die Beute und all ihre technisch wertvollen Informatio­nen mit den befreundet­en Siegermäch­ten teilen und womöglich über die Beute streiten müssen. Gesichert ist, dass die Franzosen über die unbemerkte Selbstvers­enkung der deutschen Flotte in Scapa Flow durchaus verärgert waren.

Das alles ist lange her. Aber so lange auch wieder nicht. Claude Choules, der letzte Augenzeuge der Selbstvers­enkung, ist erst 2007 im Alter von 110 Jahren verstorben.

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Foto: Imago Bei 52 von 74 eingekesse­lten deutschen Schiffen gelang am 21. Juni 1919 die Selbstvers­enkung. Sieben liegen noch auf Grund.
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