Ab hier ist die ganze Welt eine andere
Der Historiker Jörn Leonhard über die Probleme und die Folgen des Friedens von Versailles – und über die Botschaften an uns heute
Ihr Buch heißt „Der überforderte Frieden“. Warum? Was führte zur Überforderung?
Jörn Leonhard: Es sind vier Aspekte. Erstens: Die Geschichte des Krieges selbst. Denn in diesem Weltkrieg mit den unglaublich vielen Opfern – wir wissen heute: über 20 Millionen Zivilisten und Soldaten –, werden mit jedem Jahr neuer Opfer immer größere Erwartungen an einen Friedensschluss entwickelt. In dem Sinne, dass der Friedensschluss diese enormen Opfer und Lasten für Soldaten, für Frauen, für Kinder, für alle, die an diesem Krieg beteiligt waren, rechtfertigen sollte. Der totalisierte Krieg führte eben auch zu einer Totalisierung von Erwartungen an den Frieden.
Zweitens?
Leonhard: Dass es nicht mehr wie nach den Napoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress allein um Europa geht – sondern es geht um eine Friedensordnung für die ganze Welt. Es geht um die Kolonialgesellschaften, die alle in irgendeiner Form bei den Friedensverhandlungen in Paris mit dabei sind, ob an den Konferenz- oder an den Katzentischen. Das heißt, es geht um eine globale Ordnung.
Drittens?
Leonhard: 1918 ist auch ein Augenblick in der Geschichte der modernen Demokratie. In vielen Ländern wird bei Kriegsende das allgemeine Wahlrecht eingeführt, und viele Politiker, die in Paris sind, müssen sich nach diesen Friedensschlüssen Wahlen stellen, in denen sie daran gemessen werden: Was habt ihr versprochen und was habt ihr durchsetzen können?
Und viertens?
Leonhard: 1918/19 ist ein globaler Medienmoment, mit hunderten Journalisten, die in Paris anwesend sind und die das, was dort passiert, aber auch die Enttäuschungen und Desillusionierungen praktisch in der ganzen Welt verbreiten. Und wenn Sie diese vier Aspekte zusammennehmen, dann wird klar, wie groß und letztlich überfordernd die Erwartungen waren. Die Handlungsspielräume der Staatsmänner und Diplomaten in Paris waren jedenfalls viel beschränkter, als es die Fotografien von 1919 nahelegten.
Es heißt oft, dass der Friedensvertrag, der daraus entstanden ist, so umfangreich wie schlecht ist. Ist das so? Leonhard: Man muss differenzieren zwischen dem, was in diesem Vertrag steht – das ist in vielem detailversessen bis in die kleinsten Kleinigkeiten – und dem, wie die Zeitgenossen den Vertrag wahrnehmen. Was die Deutschen kaum reflektieren: dass der Nationalstaat von 1871 in seiner territorialen Integrität nicht infrage gestellt wird, obwohl Teile der französischen Führung zunächst eine Aufteilung anstrebten. Im Osten ist die Position Deutschlands mit der Paralyse Russlands und dem Untergang der Habsburgermonarchie sogar relativ stärker als vor 1914. Aber die Wahrnehmung der Menschen in Deutschland geht in eine ganz andere Richtung und konzentriert sich auf die Schuldfrage, den Vorwurf, allein den Krieg ausgelöst zu haben, auf die Forderung, den deutschen Kaiser auszuliefern. Hier zeigt sich etwas, das für die Konferenz und Vertrag insgesamt gilt: Es ist ein Moment der symbolischen und der hoch emotionalisierten Politik, der inszenierten Demütigung durch die Sieger und der Empörung über die „verletzte Ehre der Nation“bei den Deutschen – das hat das Klima und die Kommunikation auf lange Sicht enorm belastet. Hier lagen die Fehler der Friedensmacher 1918/19. Und konkret?
Leonhard: Etwa, dass man die Deutschen nicht zu einer wirklichen Konferenz eingeladen hat, dass es keine direkte Kommunikation gibt. Die Deutschen werden erst nach Paris eingeladen, als der Vertrag faktisch fertig ist, und werden dann mit einem Ultimatum unter Druck gesetzt, ihn anzunehmen. Eine Ablehnung hätte die wahrscheinliche Besetzung des Landes bedeutet – und auch die Frage der territorialen Integrität neu gestellt.
Und was war positiv?
Leonhard: Wenn sie Verhandlungen insbesondere auch der Experten in Paris untersuchen, dann finden sie ein großes Bewusstsein dafür, was der Krieg alles verändert hat. Also etwa im Blick auf die Minderheiten in den neuen Nationalstaaten, im Blick auf die ökonomischen Belastungen, die aus dem Krieg hervorgehen. Und hier gibt es sehr viele neue und progressive Ideen. Viele Diplomaten setzen ihre Hoffnungen auf den Völkerbund, auf einen neuen Internationalismus. Vor allem dürfen wir nicht den Fehler begehen und aus der Logik des Rückblicks allein argumentieren – also von 1933 oder ’39 her auf 1918 blicken. Dann kommt man zu dem Kurzschluss, dass der Versailler Vertrag schon den Weg in den Zweiten Weltkrieg ebnete. Die Situation von 1918/19 war enorm belastet, ohne Zweifel, aber sie war auch offener, als wir das lange angenommen haben.
Monarchien untergegangen, der Völkerbund gegründet – und plötzlich steht mit dem Ende des Imperialismus auch noch die Idee einer Selbstbestimmung der Völker im politischen Raum, eingebracht von US-Präsident Wilson… Ist ab hier die Welt eine andere? Leonhard: Das würde ich auf jeden Fall sagen, das macht das Scharnier dieser Jahre 1918 bis 1923 aus. Und die Idee der nationalen Selbstbestimmung kommt ja nicht allein von Wilson, sondern wurde zuerst Ende 1917 – noch vor Wilsons Vierzehn Punkten – von den russischen Bolschewiki entwickelt.
Womit ja auch das Gegenüberstehen der beiden, das 20. Jahrhundert prägenden Blöcke bereits zementiert ist… Leonhard: Aber wieder sehr viel offener, als wir das heute aus der Perspektive des Kalten Krieges sehen würden. Wilson sieht in den Revolutionen in Russland nicht den großen Gegensatz zum Westen, sondern erkennt darin zunächst den Durchbruch einer demokratischen Bewegung in Russland. Der ideologische Gegensatz entwickelt sich erst später. Aber 1917 beginnt doch so etwas wie ein amerikanisches Jahrhundert der internationalen Positionierung und der intensiven Beziehungen zu Europa, das mit der Präsidentschaft von Donald Trump vielleicht jetzt zu seinem Ende kommt. Auch damit wird deutlich, wie viel unsere Gegenwart mit dieser Vergangenheit zu tun hat.
Und die Selbstbestimmung? Leonhard: Dieser Schlüsselbegriff gehört entscheidend zur neuen Globalität der Politik. Bereits die Men-