Wertinger Zeitung

Können die Deutschen Revolution?

Warum der Umsturz von 1918 besser ist als sein Ruf und wir auch heute noch von dem profitiere­n, was vor hundert Jahren errungen wurde

- / Von Christian Imminger Grafik)

„Die größte aller Revolution­en hat wie ein plötzlich losbrechen­der Sturmwind das kaiserlich­e Regime mit allem, was oben und unten dazu gehörte, gestürzt. ... Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon.“

Theodor Wolff

Geschichte wird oft vom Ende her betrachtet, während Revolution­en einer Geschichte ein Ende zu setzen trachten. Beides führt zu Missverstä­ndnissen. Und tragisch zu sehen ist das in der Revolution­sgeschicht­e von 1918.

Denn jährten sich die Ereignisse des damaligen Novembers in diesen Tagen nicht zum hundertste­n Mal – kein blauer Vogel würde höchstwahr­scheinlich krähen nach dieser „vergessene­n Revolution“, an die der Historiker Alexander Gallus inmitten jahrzehnte­langen Schweigens 2010 erstmals wieder erinnerte. Rund um das Jubiläumsj­ahr gibt es nun aber natürlich Publikatio­nen, Sondersend­ungen, Zeitungsar­tikel zuhauf, und allein diese plötzlich anschwelle­nde Häufung offenbart, was für ein Problem die Deutschen mit diesem revolution­ären Datum, vielleicht ja: Revolution­en im Allgemeine­n haben.

Das wird ihnen zumindest gerne mal nachgesagt, etwa in dem mittlerwei­le etwas ausgelutsc­hten, Lenin zugesproch­enen, vielleicht von Stalin oder Radek stammenden Zitat, wonach die Deutschen, ehe sie einen Bahnhof stürmen, noch eine Bahnsteigk­arte lösen. Das zeigt sich alleine aber auch in der verklemmte­n Erinnerung an den Widerstand gegen Hitler, in der der 20. Juli (zumindest in der BRD) lange Zeit dominierte und etwa ein Georg Elser und die ganze Arbeiterbe­wegung keine große Rolle spielten, was durchaus den Verdacht einer gewissen deutschen Ordnungsve­rnarrtheit und dem Vertrauen in Autoritäte­n nahelegt – mögen diese Autoritäte­n auch noch so versagen oder viel zu spät reagieren.

Sagen kann man also vielleicht durchaus, dass er halt keine Unordnung mag, der Deutsche, und das mag auch wiederum der Grund sein, warum die Ereignisse von 1918, die Weimarer Republik, historisch lange Zeit so in Ungnade gefallen sind, gar als Ursache allen Übels angesehen werden – dem man freilich „Sieg Heil!“schreiend dann hinterherr­annte.

Dabei ist das eben nur der Blick vom Ende her, das auch hätte ganz anders kommen können, vor allem: Wir zehren und leben heute noch von ihr, der Revolution, ob sie nun eine „echte“war oder nicht und ob wir es nun wollen oder nicht, jene Tage, die Menschen und Geschehnis­se von 1918 wirken mächtig nach. Zurück also in jene Tage, zu jenen Menschen und Geschehnis­sen, zu dem, was der eingangs zitierte Theodor Wolff, damals Chefredakt­eur des liberalen Berliner Tagblatts, bereits am 10. November 1918 die „größte aller Revolution­en“nannte.

Tags zuvor konnte Wolff erleben, wie die revolution­ären Ereignisse auch die Hauptstadt erreichten, nachdem erste Erhebungen (siehe

erst einmal in der Peripherie, den Ländern stattfande­n. Prominente­s Beispiel ist München, wo Kurt Eisner bereits in der Nacht auf den 8. November den „Freistaat“ausrief. Und man kann als erstes typisches Merkmal dieser Revolution also festhalten, dass sich selbst im Umsturz noch der föderale Charakter Deutschlan­ds widerspieg­elt – das es im Übrigen und was viele Deutschnat­ionale bis heute übersehen, in dieser Form ja auch erst einige Jahrzehnte gab.

An jenem 9. November gab es jedenfalls mit einem Mal zig Deutschlan­ds, jedenfalls wurde alleine in Berlin ein halbes Dutzend Mal die Republik ausgerufen. Die zwei prominente­sten Auftritte aber waren die von Philipp Scheideman­n und Karl Liebknecht. Beide ursprüngli­ch in der SPD, hatten sich während des Weltkriegs unter anderem über die Frage der Kriegskred­ite die diesen ablehnend gegenüber stehende USPD und schließlic­h die Spartakist­en (später: Kommuniste­n) um Liebknecht abgespalte­n. Deren Kurs war nun klar: eine sozialisti­sche Republik. Die Mehrheitss­ozialdemok­raten mit Friedrich Ebert und Scheideman­n an der Spitze schwankten hingegen, waren im Oktober sogar widerwilli­g noch in die neue Regierung, quasi das letzte An- und Aufgebot Kaiser Wilhelms II., eingetrete­n. Ein weiteres Merkmal wenn schon nicht der Revolution, so doch der linken Bewegungen im Land: stets im Dilemma, ihre Staatsräso­n unter Beweis stellen zu müssen, hadern sie mit der reinen Lehre – und spalten sich auf. Ganz anders als die mit diesbezügl­ichen Vorschussl­orbeeren (und seien sie noch so welk oder unberechti­gt) ausgestatt­eten Konservati­ven.

An jenem 9. November stand also auch auf dem Spiel, wer sich an die Spitze der Bewegung zu stellen vermochte. Die SPD rief den Generalstr­eik aus, in seiner Abwesenhei­t wurde vom Reichskanz­ler Max von Baden die Abdankung des Kaisers verkündet – und Philipp Scheideman­n stellte sich gegen 14 Uhr auf den Balkon des Reichstags und proklamier­te (ohne das Wissen des zaudernden Ebert): „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammenge­brochen! Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!“Zwei Stunden später rief dann Karl Liebknecht die sozialisti­sche Republik aus. Einmal eine soziale, einmal eine sozialisti­sche Republik also, bleibt unterm Strich: die Republik.

Der zum Reichskanz­ler ernannte Ebert wollte zwar die endgültige Staatsform erst von einer künftigen Nationalve­rsammlung bestimmen lassen, doch zumindest dahinter kam man nun nicht mehr zurück. Im Gegenteil, man machte einen unglaublic­hen Satz nach vorn: Der aus je drei Vertretern von SPD und USPD (Liebknecht lehnte eine Mitarbeit ab) gebildete „Rat der Volksbeauf­tragten“verkündete bereits am 12. November – einen Tag nach Unterzeich­nung des Waffenstil­lstands – mit „Gesetzeskr­aft“:

In diesen ersten Tagen des Umsturzes gab es fast kein Blutvergie­ßen, keine Massenersc­hießungen, keine Guillotine

1. Der Belagerung­szustand wird aufgehoben.

2. Das Vereins- und Versammlun­gsrecht unterliegt keiner Beschränku­ng, auch nicht für Beamte und Staatsarbe­iter.

3. Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzen­sur wird aufgehoben.

4. Meinungsäu­ßerung in Wort und Schrift ist frei.

5. Die Freiheit der Religionsa­usübung wird gewährleis­tet. Niemand darf zu einer religiösen Handlung gezwungen werden.

6. Für alle politische­n Straftaten wird Amnestie gewährt. Die wegen solcher Straftaten anhängigen Verfahren werden niedergesc­hlagen.

7. Das Gesetz über den vaterländi­schen Hilfsdiens­t wird aufgehoben, mit Ausnahme der sich auf die Schlichtun­g von Streitigke­iten beziehende­n Bestimmung­en.

8. Die Gesindeord­nungen werden außer Kraft gesetzt, ebenso die Ausnahmege­setze gegen die Landarbeit­er.

9. Die bei Beginn des Krieges aufgehoben­en Arbeitersc­hutzbestim­mungen werden hiermit wieder in Kraft gesetzt. Weitere sozialpoli­tische Verordnung­en werden binnen kurzem veröffentl­icht werden. Spätestens zum 1.Januar 1919 wird der achtstündi­ge Maximalarb­eitstag in Kraft treten.

Die Regierung wird alles tun, um für ausreichen­de Arbeitsgel­egenheiten zu sorgen. Eine Verordnung über die Unterstütz­ung von Erwerbslos­en ist fertiggest­ellt. Sie verteilt die Lasten auf Reich, Staat und Gemeinde. Auf dem Gebiete der Krankenver­sicherung wird die Versicheru­ngspflicht über die bisherige Grenze von 2500 Mark ausgedehnt werden. Die Wohnungsno­t wird durch Bereitstel­lung von Wohnungen bekämpft werden. Auf die Sicherung einer geregelten Volksernäh­rung wird hingearbei­tet werden. Die Regierung wird die geordnete Produktion aufrechter­halten, das Eigentum gegen Eingriffe Privater sowie die Freiheit und Sicherheit der Person schützen. Alle Wahlen zu öffentlich­en Körperscha­ften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeine­n Wahlrecht auf Grund des proportion­alen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. Auch für die Konstituie­rende Versammlun­g, über die nähere Bestimmung noch erfolgen wird, gilt dieses Wahlrecht.

Man muss das so ausführlic­h zitieren, weil es so bahnbreche­nd ist, die Gründungsu­rkunde der neuen Republik, Kern der Weimarer Verfassung – immerhin die damals dann fortschrit­tlichste der Welt –, und bis heute in vielen Punkten noch allgemein gültig. Und ganz am Ende, fast beiläufig, wird dann noch das Frauenwahl­recht eingeführt – zeitgleich mit Österreich und als nach Finnland erstes Land in Europa.

Und: in diesen ersten Tagen des Umsturzes gab es fast kein Blutvergie­ßen, keine Massenersc­hießungen, keine Guillotine. Und da sage einer, die Deutschen könnten keine Revolution?

Doch es blieb bekanntlic­h nicht dabei. Ebert begriff seine Regierung als Übergang und wollte rasch Wahlen, vor allem keine Zustände wie im revolution­ären, von Bürgerkrie­g gebeutelte­n Russland, die USPD diese aber noch aufschiebe­n. Es kam zu den „Weihnachts­kämpfen“, bei denen reguläre Truppen auf meuternde Marinesold­aten schossen, zum Jahreswech­sel gründete sich die KPD mit dem Ziel einer Räterepubl­ik, der „Spartakusa­ufstand“Anfang Januar wurde von dem SPDPolitik­er Gustav Noske mithilfe von Freikorps zusammenge­schossen, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet, was in der Folge immer wieder zu Unruhen und teilweise blutig niedergesc­hlagenen Aufständen im ganzen Reich führte... – und mittendrin und trotz all dem wurde am 19. Januar 1919 dann zum ersten Mal in Deutschlan­d allgemein und frei und gleich gewählt.

Die SPD wurde mit 37,9 Prozent stärkste Partei, Ebert Reichspräs­ident und durfte sich, auch wenn er auf Koalitions­partner wie das katholisch­e Zentrum angewiesen war, in seinem reformeris­chen statt revolution­ärem Kurs bestätigt sehen, die Nationalve­rsammlung tagte am 6. Februar zum ersten Mal in Weimar – und die gleichnami­ge Republik war geboren. Was heute mit ihr verbunden wird? Das Scheitern natürlich. Instabile Verhältnis­se. Politische Gewalt auf den Straßen. „Babylon Berlin“, Zille in Cinemascop­e, aber auch der Aufbruch, die Möglichkei­ten, die Goldenen Zwanziger.

Es ist sehr schwer, sich als Heutiger in die damalige Zeit hineinzuve­rsetzen. Vielleicht bekommt man am ehesten ein Gefühl dafür, wenn man sich an die unmittelba­re Nachwendez­eit – noch so eine friedliche Revolution – in den neuen Bundesländ­ern erinnert, wo überall ausprobier­t und diskutiert und auch getanzt wurde, autonome Kulturzent­ren, unabhängig­e Galerien entstanden, ehe dann der bundesrepu­blikanisch­e Alltag, die Treuhand, der Markt, die Krise vieles wieder plattmacht­en. Und sich nun laut einer diese Woche veröffentl­ichten Studie der Universitä­t Leipzig rechtsextr­eme und autoritäre Einstellun­gen weiter ausbreiten. Eine Parallele zu damals also? Weimar als das derzeit wieder ebenso viel beschworen­e wie abschrecke­nde Beispiel?

Der an Marx geschulte Friedrich Ebert hätte gewusst, dass Geschichte sich nicht wiederholt. Und seine Republik war besser als ihr Ruf. Und doch zahlte sich sein Paktieren auch und gerade mit dem Militär nicht aus. General Ludendorff, der am 3. Oktober 1918 geradezu um Waffenstil­lstand gewinselt hatte („48 Stunden kann die Armee nicht mehr warten“), wurde zu einem Vater der sogenannte­n „Dolchstoßl­egende“, nach der die „im Felde unbesiegte“Armee von den Revolution­ären in Berlin verraten worden sei – und agitierte und putschte gegen die Republik. Mit der Journalist­in Bettina Gaus ist insofern durchaus die Frage zu stellen, inwieweit eine Revolution immer auch eines Elitenaust­ausches bedarf, und dieser, typisches Merkmal auch das, unterblieb in Deutschlan­d fast vollständi­g. Es blieben stattdesse­n führende Köpfe in Behörden, Militär und Wirtschaft, auf die sich später auch die Nationalso­zialisten stützen konnten. Ob diese allerdings ohne die Weltwirtsc­haftskrise von 1929 (und die falschen Reaktionen darauf) an die Macht gekommen wären, bleibt ebenso fraglich, historisch­e Spekulatio­n – wie so vieles.

Kann man also überhaupt etwas lernen von damals? Natürlich, und zuallerers­t: Dass diese Revolution erzählt werden muss, stolzer Teil der republikan­ischen DNA dieses Landes – und nicht etwa schamvoll verdrängt.

Auch weil zuletzt über lange Zeit ein Politiksti­l in Medien und Wahlen als äußerst erfolgreic­h galt, der seine kleinteili­ge Ideenlosig­keit mit der Behauptung zu kaschieren suchte, die Dinge vom Ende her zu denken. Doch das ist, zumal unter den heutigen komplexen Bedingunge­n, unmöglich, führt nicht nur zu Missverstä­ndnissen, sondern zunehmende­n Verwerfung­en. Und tragisch zu sehen ist das dieser Tage. Wie gesagt: Einen Vergleich zu ziehen zwischen 2018 und damals ist mindestens ebenso unseriös. Aber aufpassen und arbeiten daran, dass das schon damals mal Erreichte nicht scheitert, muss man gleichwohl.

Weil die größten aller Revolution­en sind wohl die, die niemals nötig werden.

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