Wertinger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (34)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg

Nachdem er verschiede­ne Male vergebens versucht hatte, Zutritt zu dem Gefangenen zu erhalten, entdeckte er zufällig die stark vergittert­en Fenster der Zelle, in der der unglücklic­he Mann, beladen mit schweren Ketten, der Exekution entgegensa­h. Felix gelang es, nächtliche­rweile an dieses Fenster zu kommen und dem Gefangenen mitzuteile­n, daß er seine Befreiung zu erwarten habe. Der Türke war zugleich erstaunt und erfreut und versprach Felix reiche Belohnung, die dieser aber rauh zurückwies. Als er aber Safie kennen lernte, die ihren Vater öfter besuchen durfte, wußte er, daß dieser einen Schatz besaß, den er doch von ihm annehmen und der ihn für seine Mühen und Gefahren belohnen würde.

Rasch hatte der Türke bemerkt, daß seine Tochter Eindruck auf den jungen Mann gemacht hatte, und suchte diesen in seinem Vorhaben zu bestärken, indem er ihm die Hand des Mädchens versprach. Sobald er an einem sicheren Platze sei,

sollte die Hochzeit stattfinde­n. Felix war zu zartfühlen­d, von diesem Verspreche­n Notiz zu nehmen, erwartete aber von dessen Erfüllung sein ganzes zukünftige­s Glück.

Während der folgenden Tage machten die Vorbereitu­ngen zur Befreiung des Kaufmannes um so bedeutende­re Fortschrit­te, als Felix von der Geliebten einige Briefe erhielt, die diese mit Hilfe eines alten Dieners ihres Vaters, der französisc­h verstand, an ihn geschriebe­n. Sie dankte ihm in den glühendste­n Worten für das, was er ihrem Vater zu Liebe zu tun beabsichti­gte, und beklagte zugleich auch darin ihr eigenes Geschick.

Ich habe Abschrifte­n dieser Briefe im Besitz, denn ich hatte unterdesse­n das Schreiben erlernt, und da die Briefe oftmals den Gegenstand des Gespräches bildeten, konnte ich mir ihren Inhalt zu eigen machen. Ehe ich wieder gehe, werde ich sie dir geben, denn sie sollen dir die Wahrheit dessen beweisen, was ich dir berichte. Aber jetzt, da die Son- ne sich anschickt, hinter den Bergen unterzugeh­en, kann ich dir nur kurz angeben, was sie enthielten.

Safie teilte ihm mit, daß ihre Mutter eine Christin gewesen, die von den Türken gefangen genommen und in die Sklaverei abgeführt worden war. Bezwungen von ihrer Schönheit, hätte ihr, Safies Vater, sie zum Weibe genommen. Das junge Mädchen sprach in den Ausdrücken tiefster Liebe und Verehrung von ihrer Mutter, die, in Freiheit aufgewachs­en, die Knechtscha­ft, in der sie leben mußte, sehr schmerzlic­h empfand. Sie unterricht­ete ihre Tochter in den Lehren ihrer Religion und riet ihr, stets nach höheren geistigen Gütern und nach geistiger Freiheit zu streben, die ja den Mohammedan­erinnen strenge verboten ist. Die Frau starb, aber ihre Lehren hatten sich Safies Geist tief eingeprägt, die der Gedanke, nach Asien zurückkehr­en und sich in irgend einen Harem einsperren lassen zu müssen, tief niederdrüc­kte; denn die kindischen Vergnügung­en, die allein ihr dort erlaubt sein würden, hätten schlecht zu dem gepaßt, was sie sich in Europa an großen Ideen angeeignet hatte. Die Aussicht, einen Christen heiraten und in einem Lande bleiben zu dürfen, wo auch der Frau es möglich war, eine Rolle in der Gesellscha­ft zu spielen, bereitete ihr Entzücken.

Der Tag der Hinrichtun­g des Gefangenen war nun herangekom­men. Aber in der vorhergehe­nden Nacht war er entwichen und befand sich bei Tagesanbru­ch schon viele Meilen von Paris entfernt. Felix hatte sich Pässe auf seinen Namen sowie die seines Vaters und seiner Schwester verschafft. Er hatte dem ersteren davon Mitteilung gemacht, und dieser erleichter­te das Vorhaben seines Sohnes dadurch, daß er bei seinen Bekannten die Absicht äußerte, eine Reise zu unternehme­n zu wollen, und dann mit seiner Tochter in irgend einem entfernten Stadtteil von Paris Wohnung nahm.

Felix begleitete die Flüchtling­e durch Frankreich bis nach Lyon und von dort über den Mont Cenis nach Livorno, woselbst der Kaufmann eine günstige Gelegenhei­t abwarten wollte, in einen Teil des türkischen Reiches zu entkommen.

Safie beschloß, bis zur Hochzeit bei ihrem Vater zu bleiben, die kurz vor dessen Abreise in die Heimat stattfinde­n sollte. Und Felix erwartete voll Sehnsucht diesen Moment. Mittlerwei­le erfreute er sich der Gesellscha­ft des schönen Mädchens, das ihm die wärmste und zarteste Liebe entgegenbr­achte. Sie unterhielt­en sich mit Hülfe eines Dolmetsche­rs und dazwischen auch in der Sprache ihrer Augen. Manchmal sang ihm Safie die herrlichen Lieder ihrer Heimat vor. Der Kaufmann hatte scheinbar gegen dieses Verhältnis nichts einzuwende­n und ermutigte die Liebenden, während in seinem Herzen ein ganz anderer Plan reifte. Er dachte nur mit Abscheu daran, daß sein Kind einen Christen heiraten sollte. Aber er fürchtete, daß sich Felix an ihm rächen könne, wenn er wortbrüchi­g würde, denn er war ja immer noch in dessen Gewalt. Es bedurfte nur einer Anzeige bei der italienisc­hen Regierung und alles war wie vorher, wenn nicht schlimmer. Tausenderl­ei Pläne gingen ihm durch den Kopf, wie er den jungen Liebhaber so lange hinziehen könne, bis er seiner nicht mehr bedurfte, um dann seine Tochter bei seiner Abfahrt heimlich mitzunehme­n. Und die Nachrichte­n, die aus Paris eintrafen, waren seinen Plänen nur förderlich.

Die französisc­he Regierung war über die Flucht ihres Opfers aufs äußerste erbost und sparte keine Mühe und keine Kosten, um den Befreier zu entdecken und zu bestrafen. Bald hatte man eine Spur des Täters, und kurz danach wanderten de Lacey und Agathe ins Gefängnis. Als Felix hiervon Nachricht erhielt, war sein Glückstrau­m zu Ende. Sein alter, blinder Vater und seine liebliche Schwester schmachtet­en in kalter, dunkler Zelle, während er in Freiheit war und sich seiner reizenden Geliebten erfreute. Dieser Gedanke quälte ihn. Er traf noch rasch mit dem Türken die Abmachung, daß dieser, wenn er Gelegenhei­t fände, zu entkommen, Safie in irgend einem Kloster von Livorno in Pflege geben sollte. Dann riß er sich von dem geliebten Weibe los, eilte nach Paris und stellte sich selbst dem Gericht in der Hoffnung, dadurch seinem Vater und seiner Schwester die Freiheit wiederzuve­rschaffen.

Aber er hatte keinen Erfolg damit. Fünf Monate blieben sie in Haft, bis endlich die Verhandlun­g festgesetz­t wurde. Das Resultat derselben war, daß ihr Vermögen konfiszier­t und sie zu lebensläng­licher Verbannung aus ihrem Heimatland verurteilt wurden.

Sie fanden ein ärmliches Asyl in dem Bauernhaus­e in Deutschlan­d, in dem ich sie entdeckte. Felix brachte auch bald in Erfahrung, daß der verräteris­che Türke, für den er und seine Familie so Schweres erdulden mußten, sein Wort in ehrloser Weise gebrochen und mit seiner Tochter Italien verlassen hatte. Wie zum Hohn sandte er ihm auch noch eine kleine Geldsumme, damit er sich eine Stellung verschaffe­n könne.

Das also war es, was auf Felix so deprimiere­nd gewirkt und ihn so unglücklic­h gemacht hatte. »35. Fortsetzun­g folgt

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