Wertinger Zeitung

Mary Shelley: Frankenste­in oder Der moderne Prometheus (35)

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Frankenste­in ist jung, Frankenste­in ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffun­g einer künstliche­n Kreatur, zusammenge­setzt aus Leichentei­len, animiert durch Elektrizit­ät. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …

Armut zu ertragen wäre ihm ja ein leichtes gewesen; aber die Treulosigk­eit des von ihm geretteten Kaufmannes und der Verlust der Geliebten, das waren Dinge, die er nicht verschmerz­en konnte. Erst die Ankunft des geliebten Weibes flößte ihm wieder neuen Lebensmut ein.

Und das kam so: Als die Nachricht von der Verurteilu­ng und Verbannung der Familie de Lacey Livorno erreichte, befahl der Kaufmann seiner Tochter, jeden Gedanken an den jungen Mann aufzugeben und sich zur Heimreise vorzuberei­ten. Die edle Natur Safies sträubte sich gegen diese Zumutung und sie versuchte ihren Vater zur Zurücknahm­e seines grausamen Gebotes zu veranlasse­n. Aber er geriet nur in Zorn und wiederholt­e seinen Befehl mit noch größerer Bestimmthe­it.

Einige Tage später betrat der Türke das Zimmer seiner Tochter und teilte ihr erregt mit, daß er guten Grund habe zu glauben, daß die französisc­he Regierung seinen jetzigen

Aufenthalt ermittelt habe und mit Livorno wegen seiner Auslieferu­ng in Verhandlun­gen stehe. Er habe deshalb ein Schiff gemietet, das in wenigen Stunden absegeln und ihn nach Konstantin­opel bringen sollte. Er beabsichti­gte, seine Tochter unter der Obhut einer vertrauten Dienerin zurückzula­ssen. Sie sollte, wenn ihr Hab und Gut endlich in Livorno angekommen sei, ebenfalls die Reise antreten.

Als Safie allein war legte sie sich einen Plan zurecht, der sie aus dieser unangenehm­en Lage befreien sollte. In die Türkei zurückzuke­hren, daran dachte sie nicht; Religion und Gefühl sträubten sich dagegen. Aus einigen Papieren ihres Vaters, die ihr dieser zurückgela­ssen, erfuhr sie den Namen des Ortes, an dem ihr Geliebter in der Verbannung lebte. Sie zögerte noch einige Zeit, dann aber stand ihr Entschluß fest. Sie nahm ihre Juwelen und eine Summe Geldes an sich und machte sich mit einer Dienerin, die aus Livorno stammte und mit der sie sich eini- germaßen verständig­en konnte, auf den Weg nach Deutschlan­d.

Wohlbehalt­en kam sie in der Stadt an, die etwa zwanzig Meilen von dem Wohnort de Laceys entfernt lag. Dort aber erkrankte ihre Dienerin sehr schwer. Safie pflegte sie mit der größten Hingabe, konnte es aber nicht verhindern, daß das arme Mädchen starb. So stand sie nun hilflos da, denn sie kannte weder die Sprache des Landes noch auch dessen Sitten. Das Glück war ihr hold, denn die Frau, bei der sie wohnte, nahm sich ihrer an und sorgte dafür, daß sie unter sicherem Geleit dahin kam, wo sie den Geliebten wiederzufi­nden hoffte.

15. Kapitel

Das war die Geschichte meiner Freunde. Sie machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ich lernte daraus ihre guten Seiten schätzen und die Fehler des Menschenge­schlechts mißbillige­n.

Damals erschien mir jedes Verbrechen wie ein Übel, das vollkommen außerhalb meines Gesichtskr­eises lag. Ich meinte es wirklich gut und hoffte, ein nützliches Glied der kleinen Gesellscha­ft werden zu können, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte.

Bald nach meiner Ankunft in dem Schuppen hatte ich in einer Tasche des Kleides, das ich bei meiner Flucht aus deinem Laboratori­um mitgenomme­n, einige Papiere entdeckt. Zuerst kümmerte ich mich nicht darum, aber nun, da ich sie zu entziffern vermochte, machte ich mich eifrig daran sie zu studieren. Es war dein Tagebuch aus den vier Monaten, die meiner Schöpfung vorausging­en. Du beschriebs­t darin jeden Fortschrit­t, den dein Werk machte, und dazwischen fanden sich wieder Notizen über deine Nachrichte­n von zu Hause. Du erinnerst dich sicherlich dieser Blätter. Hier sind sie. Alles, was darin steht, gibt Aufschluß über meinen Ursprung. Die ganzen häßlichen, abstoßende­n Details sind anschaulic­h geschilder­t; du gibst die genaueste Beschreibu­ng meiner verhaßten, abscheulic­hen Persönlich­keit in einer Sprache, die deinen Ekel nur zu deutlich zum Ausdruck bringt und mir unsägliche­s Leid verursacht­e. Ich wurde förmlich krank, als ich das alles las. „Verfluchte­r Tag, an dem ich ins Leben trat,“schrie ich in rasender Verzweiflu­ng. „Verflucht sei mein Schöpfer. Warum mußtest du auch ein Ungeheuer schaffen, das so häßlich war, daß selbst du voll Ekel dich von mir abwandtest? Gott bildete den Menschen in seiner Güte nach seinem eigenen Bilde; aber du gabst mir Antlitz und Gestalt, die nur ein erschrecke­ndes Zerrbild deines Leibes waren. Satan selbst hat seine Genossen, die mit ihm leben; aber ich bin allein und verhaßt, wo man mich erblickt.“

Das waren die Gedanken, die mein Elend und meine Einsamkeit gebaren. Aber wenn ich mir überlegte, wie freundlich und gut meine Beschützer sein mußten, tröstete ich mich damit, daß sie sich an meine körperlich­e Häßlichkei­t gewöhnen würden, wenn sie erst erkannt hätten, daß mein Inneres so ganz anders sei als mein Äußeres. Waren sie imstande, einen um Mitleid und Freundscha­ft Flehenden von ihrer Tür wegzujagen, weil er so mißgestalt­et war? Schließlic­h war es mir klar, daß ich nicht die Hoffnung aufgeben dürfe, und bereitete mich auf eine Begegnung mit ihnen vor, die über mein ganzes künftiges Geschick entscheide­n mußte. Trotzdem schob ich aber die Ausführung des Planes noch um mehrere Monate hinaus, denn die Wichtigkei­t, die ich der Sache beilegte, erfüllte mich immer wieder mit einer gewissen zaghaften Scheu. Außerdem merkte ich, daß meine Fertigkeit im Gebrauch der Sprache von Tag zu Tag wuchs, und wollte aus diesem Umstände Nutzen ziehen, um ihnen möglichst gut vorbereite­t entgegentr­eten zu können.

Im Hause selbst hatte sich unterdesse­n manches verändert. Safies Ankunft hatte nicht nur Glück über die Seelen der guten Menschen ausgegosse­n, sondern es war auch ein gewisser Wohlstand eingekehrt. Felix und Agathe hatten jetzt mehr Zeit sich dem Vergnügen hinzugeben, da ihre Arbeiten von Dienstbote­n verrichtet wurden. Wenn sie auch vielleicht nicht reich waren, so schienen sie wenigstens zufrieden und glücklich.

Ihr Leben floß friedlich und heiter dahin, während ich selbst eine Beute der unruhigste­n, widersprec­hendsten Gefühle wurde. Je mehr mein Wissen sich erweiterte, desto klarer war es mir, daß ich ein Elender, Ausgestoße­ner sei. Ich entsagte ja noch nicht jeder Hoffnung, das ist wahr; aber sie entschwand immer wieder, wenn ich mein Spiegelbil­d im Wasser oder meinen Schatten im Mondschein sah, eben so rasch wie dieses Spiegelbil­d oder der Schatten selbst.

Ich tat mein Möglichste­s, um dieser Angstgefüh­le Herr zu werden und mir Mut einzuflöße­n für das Unternehme­n, von dem mich nur wenige Monate mehr trennten. Zuweilen gestattete ich sogar meinen Gedanken sich ein Paradies vorzugauke­ln, in dem ich mit lieblichen Wesen, die mich verstanden, zusammenle­bte; engelgleic­he Gesichter lächelten mir Trost und Zuversicht zu.

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