Rettende Kurzschlüsse
Gefäßheilkunde Gegen verstopfte Arterien weiß sich der Körper oft selbst zu helfen: Er leitet das Blut um. Das möchte die Medizin nun verstärkt nutzen
Vor etwa sechzig Jahren entschied sich der Amerikaner Leonard Cobb, neun Patienten im Namen der Wissenschaft – einfach mal so – nur zum Schein zu operieren. Er machte einen Schnitt in ihre Haut und nähte dann die Wunde unverrichteter Dinge wieder zu. Die betäubten Probanden glaubten aber, Cobb hätte eine Ader in ihrer Brust abgeschnürt – nämlich mittels der sogenannten Ligatur der Mammaria-interna-Arterie. Die galt 1959 als das neue Wundermittel bei verkalkten Herzgefäßen und drohendem Infarkt. Ärzte hatten entdeckt, dass von dieser Brustader Gefäße sozusagen wie Umleitungsgassen zu den verstopften Herzarterien zogen. Daraufhin schlossen die Herzchirurgen: Wenn wir die Mammaria interna abbinden, einen Stau erzeugen und so den Druck im Gefäß erhöhen, dann wird gezielt frisches Blut in die Herzkranzgefäße gedrückt und umgeleitet – und so die verkalkten Engstellen überbrückt.
Aber half das tatsächlich den Patienten? Um das herauszufinden, führte Cobb bei acht weiteren Menschen mit Herzverkalkung die echte Ligatur durch. Das Ergebnis: Egal, ob zum Schein behandelt oder nicht, allen Untersuchten hatte der Eingriff gleich gut geholfen. Die Heilkraft der Operation hatten sich die Ärzte offensichtlich nur eingebildet. Und die Therapie verschwand in den Geschichtsbüchern.
Dachte man zumindest. Denn inzwischen ist sie wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Am Berner Inselspital hat der Kardiologe Christian Seiler schon neunzig Patienten mit der Methode operiert. Angesichts der kleinen Teilnehmerzahl in Cobbs Studie weigerte er sich, dessen Ergebnis Glauben zu schenken. Zudem, sagt Seiler, werde die Heilkraft der arteriellen „Kurzschlüsse“(also der Umgehungsgassen) völlig unterschätzt. Ähnlich wie bei der Mammaria interna ließen sich diese auch an anderen Stellen im Körper nutzen, um den Patienten größere Eingriffe oder Infarkte zu ersparen.
Seiler gilt als Experte für ein Forschungsgebiet, das in einem von gewinnbringenden Operationen mit Stents (also Gefäßstützen zum Offenhalten von verstopften Arterien) dominierten Fach eher ein Schattendasein führt: die Wissenschaft der Kurzschlüsse und Querverbindungen der Herzarterien, der Kollateralen, wie sie der Fachmann nennt.
Der 61-Jährige wunderte sich schon Anfang der 1990er Jahre, dass eine bis dahin geltende medizinische Regel bei seinen Forschungen nicht aufzugehen schien: Ende des 19. Jahrhunderts hatte der deutsche Pathologe Julius Cohnheim blumig den Grundsatz von der „letzten Wiese“formuliert. Herz und Hirn, sagte er, sind durchzogen von sogenannten Endarterien, die ganz auf sich allein gestellt ein eigenes Gebiet versorgen. Haben Kalk oder Blutgerinnsel diese Gefäße verschlossen, ist das entsprechende Gewebe rettungslos verloren. „Das wurde immer so in den Raum gestellt“, sagt Seiler, wirklich überprüft hätte Cohnheims Thesen jedoch niemand.
Bei Hunden, wunderte sich der Berner, war aber das Gegenteil der Fall. Ihr Herz war durchflochten von Adern, die diese angeblich letzten Wiesen zu zweit oder gar zu dritt mit Blut versorgten. Warum sollte das beim Menschen anders sein, fragte er sich. In der Zwischenzeit konnte er beweisen: Wenn der Mensch im Labor kräftig in die Pedale eines Fahrradtrainers tritt, beginnen sich in seinem Herzen plötzlich Gefäße zu öffnen, die vorher in einer Art Dornröschenschlaf lagen. Diese Kollateralen helfen, den härter arbeitenden Muskel mit Blut zu versorgen. Selbst wenn man eine kurz verschließt, kommt hinter der Abdichtung noch Blut an – weil es durch diese Umgehungsgefäße um das Hindernis herum fließt.
Sind bei einer Herzkrankheit die Adern chronisch verengt, beginnen diese Kollateralen sogar zu wachsen, erklärt sein Kollege Ivo Buschmann, Klinikdirektor am Deutschen Angiologie-Zentrum Brandenburg. Bei manchen Patienten gehe das sogar so weit, dass sie von übelsten Verschlüssen gar nichts spüren. Auch in Studien wurde inzwischen belegt: Gute natürliche Bypässe lindern nicht nur die Symptome, sie senken auch das Sterberisiko um bis zu vierzig Prozent. Und selbst bei einem akuten Infarkt, wenn dem Gefäß eigentlich keine Zeit bleibt, neue Kollateralen zu bilden, ersticken bei bereits ausgebildeten Querverbindungen weniger Herzmuskelzellen.
In der Nervenheilkunde hat die Entdeckung der Kollateralen einst das ganze Fachgebiet umgekrempelt: Noch Ende der 1970er Jahre, berichtet Hermann Zeumer, der frühere Direktor der Klinik für Neuroradiologie der Hamburger Uni-Klinik, wurde in Patienten mit schweren Schlaganfällen nicht mehr viel Mühe investiert. Spätestens nach fünf Minuten ohne Blutversorgung, meinte man, sind bei einem solchen Infarkt im Kopf die Nervenzellen rettungslos verloren. Irgendwann stellte man aber fest: Das Hirn war gar nicht auf einen Schlag tot. „Das war nur auf eine Art zu erklären“, erinnert sich Zeumer. „Es musste Kollateralen geben, die in der Lage waren, das Randgebiet des Infarkts weiter mit Sauerstoff zu versorgen.“Inzwischen nutzt man die gewonnene Zeit, um in speziellen Stroke Units oder im KatheterLabor die verstopfenden Blutgerinnsel mit Medikamenten oder Kathetern zu entfernen.
Nicht alle Menschen aber, sagt Elisabeth Deindl von der LudwigMaximilians-Universität München, würden im gleichen Ausmaß Umgehungskreisläufe bilden. Das hat genetische Gründe. Auch deshalb hat sich die Biologin auf die Suche nach Wirkstoffen gemacht, die das Wachstum der Kollateralen künstlich anregen. Bei Mäusen hat sich das Verfahren schon bewährt. Auf die Frage, ob Ähnliches beim Menschen gelingen könnte, reagiert sie nur verhalten optimistisch. Der Grund: Die Entzündungszellen fördern nicht nur die Kollateralenbildung, sie heizen womöglich auch umgekehrt die Atherosklerose an. Beide Prozesse sind eng miteinander verwandt.
Es gibt auch weniger riskante Hoffnungsträger: Vor zwei Jahren konnten Leipziger Wissenschaftler belegen, dass sich mit zwei bis zweieinhalb Stunden täglichem Ausdauertraining der Kollateralfluss am Herzen fast verdoppeln lässt. RegelKoronararterie
Medizinische Regeln werden auf den Kopf gestellt
Medizingeschichte soll umgeschrieben werden
mäßiges Joggen, Walken, Radfahren und Schwimmen, das zeigen auch andere Arbeiten, führt zu einem Ausbau der Umgehungsverbindungen.
Für weniger aktive Zeitgenossen entwickelte Ivo Buschmann an der Berliner Charité die sogenannte Herzhose. Sie besteht aus Luftkissen um Gesäß, Waden und Oberschenkel, die sich im Herzrhythmus blitzschnell aufblasen. Und drücken dann das Blut aus den Beinen zusätzlich Richtung Herz zurück. Weil dies zu einem verstärkten Fluss in den Kranzgefäßen führt, erklärt der Mediziner, werde dort der wichtigste Reiz für den Ausbau des Kollateralsystems gesetzt: ein starker reißender Strom entlang der Arterienwände. Der Beweis, dass die Herzhose wirklich Infarkte verhindert, steht aber noch aus.
In Bern versucht unterdessen Christian Seiler, die Medizingeschichte noch einmal umzuschreiben: Auch er wird demnächst fünfzig Patienten zum Schein operieren und vergleichen, ob die echte Ligatur fünfzig Leidensgenossen besser bekommt. Kollateralen retten Menschenleben, das ist gesichert. Offen ist nur noch die Frage, wie man ihnen am besten auf die Sprünge hilft.